Privatinitiative

Foto: mee

Er mochte Geschäftsreisen. Sie gaben ihm die Möglichkeit, etwas Abstand zu seiner Familie zu finden. Zu Helena und den Jungs. Wenigstens vorübergehend. Noch einmal eintauchen in das Abenteuer des Alleinseins. Frei und ungebunden sein. Ein Luxus, den er sich sonst kaum leisten konnte. Firma, Haus, Tennisverein. Alles verlief nach klaren Regeln. Sogar die Abende, wenn er aus dem Büro kam, waren nach einer festen Liturgie konzipiert. Abendessen, Hausaufgaben kontrollieren, gerade der Jüngste hatte es nötig, die „Tagesschau“ gucken und Helena zuhören, die ihm den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis erzählte, während er dazu genüsslich ein Glas Wein trank oder an einer Zigarre zog.

Das gestattete sie ihm. Vielleicht, weil es ihr männlich vorkam, sie an irgendeinen Großvater oder Großonkel erinnerte, in dessen Zigarrendunstkreis sie sich als Kind bewegt hatte. In der Firma galt Rauchen als Tabu. Alles strebte dem gesunden Leben zu. Obwohl es auch in Alexander Beyers Branche, wie woanders auch, um den knallharten Profit, die Gewinnmaximierung ging. Trotzdem kam ihm das Windenergie-Unternehmen, für das er seit nunmehr 15 Jahren arbeitete, zunehmend wie eine Ökologie-Sekte vor. Wenn er die Sonnenaufgänge und lächelnden Gesichter mit Windrädern auf den glitzernden Tafeln im Eingangsbereich der Firma sah, verspürte er ein Unwohlsein. Ein ziemliches fades Leben eigentlich, was er da führte. So dachte er immer öfter. Sauber und unberührbar. Perfekt durchorganisiert. Frühere Generationen hatten sich schmutzig machen müssen, in die Hände gespuckt, um die Lichter der Städte zum Brennen zu bringen. Jetzt strahlte alles Sauberkeit und Effizienz aus.

Obwohl. Tatsächlich waren es immer noch die Gas- und Kohleproduzenten, die die Wirtschaft auf Draht hielten, denn der Anteil der Wind- und Sonnenenergie am deutschen Energieverbrauch war bei Licht gesehen immer noch verschwindend gering. Mochten die mit PR- und Regierungsunterlagen gefütterten Medien auch einen anderen Eindruck erzeugen. Schon über den kleinsten erfolgreichen Geschäftsabschluss des Unternehmens in Holland, Spanien oder in der Türkei berichteten sie mit Euphorie. Energiewende, allmählich konnte Alex Beyer das Wort, das ihn einst zu Managementgroßleistungen animiert hatte, nicht mehr hören.

Jetzt also Warschau. Unsicher und leicht übermüdet vom frühen Flug stand er am Ausgang des Fryderyk-Chopin-Flughafens und visierte die Wartenden. Hielt irgendjemand ein Schild mit seinem Namen hoch? Er korrigierte die Krawatte, setzte den Koffer ab, ohne ihn aus dem Blick zu verlieren. Polen, da wusste man schließlich nie so genau. Er sah Menschen, die sich umarmten und küssten und in der für ihn so fremden Sprache begrüßten. Opern des Wiedersehens, Arien der Rührung. Tränen, Emotionen.

Plötzlich sah er, wie eine junge Frau durch die Drehtür lief und hektisch umherblickte. Wen suchte sie? Ihn? Den Gast aus Deutschland? Er wusste nicht, ob er ihr ein Zeichen geben sollte. Jetzt stand sie und reckte den Kopf. Eine relativ große Frau mit einem dunkelblauen Business-Dress. Die dunklen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Ernste Augen. Sah sie ihn nicht? Schaute sie über ihn hinweg? War er unsichtbar?

„Sind Sie Herr Beyer aus Münster?“ Er fuhr erschrocken zur Seite. Ein Mann mit Jeans und Sportjacke grinste ihn an. „Ja.“ Beyer wusste nicht, was er sagen sollte, so sehr hatte die Frau im Business-Dress seine Aufmerksamkeit absorbiert. „Freue mich, dass Sie da sind. Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug.“ „Ja“, Beyer nickte und sah in die scheuen Augen des Mannes, der wie ein Student im fünfzehnten Semester aussah. Etwas verbummelt, aber freundlich. Vor allem aber sprach der Mann Deutsch, mit leichtem polnischem Akzent, was jetzt das wichtigste war. Beyer fühlte sich weniger verloren. „Soll ich Ihnen den Koffer abnehmen?“, fragte der Mann und zeigte mit dem Finger herunter. Alexander Beyer, der mit einem Auge immer noch herüber zu der Frau im Business-Dress schielte, die offensichtlich noch nicht gefunden hatte, was sie suchte, stimmte zu. „Das wäre sehr freundlich. Danke.“ Der Mann, der seinen Namen kannte, griff zu, nahm den Koffer.

*

Nach der Linksabbiegung folgte wieder eine Unterführung. „Sitzen Sie bequem?“ fragte der junge Mann, der Beyer anbot, ihn einfach Stasiu zu nennen, während er mit flinker Geschwindigkeit weiter durch den dichten Warschauer Stadtverkehr brauste. Mal überholte er links, mal rechts, als gelte es, einen Slalom zu gewinnen. „Es geht so. Schon in Ordnung“, sagte Alexander Beyer, der aufgrund seiner Körperlänge gerne auf die Fahrt in dem Mini Rover verzichtet hätte. Stasiu fuhr eindeutig zu schnell, aber die anderen Fahrer, so schien es, taten dies auch. Lauter unbekannte Kubicas, tollkühn, wie der berühmte polnische Rennfahrer und Bruchpilot.

„Mein Bruder bat mich, Sie abzuholen, weil ich gerade in der Nähe war.“ „Aha“, Beyer versuchte so freundlich wie möglich zu sein. Sich bloß keine Irritation anmerken zu lassen. „Mein Bruder ist sehr beschäftigt. Er hat große Visionen für Polen, und er sagt, Sie und Ihre Firma könnten ein Segen für das Land sein. Ihre Windräder seien nicht nur die besten in Europa, sondern weltweit.“ Bevor Alexander Beyer sich angemessen für diese Schmeichelei bedanken konnte, wurde er durch ein abruptes Bremsen fast vor die Windschutzscheibe geschleudert. „Kurwa mać!“ Schimpfte sein polnischer Fahrer und schlug jetzt wütend auf das Lenkrad. Er bebte vor Zorn. Alexander Beyer spürte, dass sich an seinem Hals so etwas wie Angstschweiß ausbreitete. „Haben wir es denn so eilig? Fragte er Stasiu, den Fahrer, höflich.

Der hatte sich inzwischen wieder beruhigt und durch ein geschicktes Rückwärts- und Links-Überholmanöver, allerdings bei rotem Ampellicht, aus dem vorübergehenden Stau befreit. „Natürlich. Mein Bruder sagt immer: Zeit ist Geld. Ein altes Sprichwort, oder?“ „Ja, das stimmt“, sagte Alex Beyer, der seit Überschreiten des 50. Lebensjahrs nur noch Spott für diesen Satz empfand. Zeit ist Geld. Wie viel Geld blieb ihm dann noch? Etwas melancholisch geworden ließ er die Augen über die gigantisch-großen Werbeplakate wandern, die jetzt überall an alten und renovierten Häusern zu sehen waren. Junge, schöne Gesichter und Körper. Konsumheilige, die das Glück beim Kauf einer neuen Uhr, Hose oder eines bestimmten Mineralwassers verhießen. „Keine Angst. Gleich sind wir da. Jedenfalls schon mal im Warschauer Büro“, sagte Stasiu nun, während er mit dem Handy eine SMS schrieb und dabei, wie Beyer mit Entsetzen feststellte, fast mit einem Motorradfahrer zusammenstieß. Immerhin baumelte am Rückspiegel ein kleines Kruzifix. Wenn es half.

Das Haus in der Alfred-Nobel-Straße machte auf Beyer keinen sehr einladenden Eindruck. Die Wände im Treppenhaus waren mit Graffitis beschmiert. Die Lichtschalter wirkten Sozialismus-erprobt. Umso herzlicher war das Lächeln von Jacek Kolawski, dem Inhaber von Polwind, der elegant die Tür öffnete. „Freue mich sehr, Herr Beyer, Sie zu treffen. Hoffe, Sie hatten eine gute Anreise.“ Alexander Beyer nickte. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Nur ungern hatte er den Koffer mit seinen geschäftlichen Unterlagen, Kleidung und Kulturbeutel unten in dem kleinen Mini gelassen. „Schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen“, nuschelte Beyer etwas verlegen, während sein Fahrer, Stasiu, sich wie ein Assistent neben den Bruder stellte und den Deutschen zum Eintreten in die Wohnung aufforderte.

Was Alexander Beyer drinnen sah, war nichts. Außer einem alten Telefon, einer abgebrannten Kerze und ein paar Solarzellen, die in dem ansonsten vollkommen leeren Raum völlig verloren wirkten. „Ist das Ihr Büro?“ fragte Beyer den Chef von Polwind vorsichtig. Jacek Kolawski lachte und warf den modischen Schal, den er salopp am Hals trug über die Schulter. „Die Adresse in der Hauptstadt ist nur ein Trick“, klärte er Beyer augenzwinkernd auf. „Produziert wird in Kielce. Wir fahren gleich mal hin. Es sind nur 200 Kilometer.“

Alexander Beyer nickte freundlich. Was war das für eine seltsame Geschäftsreise? Hätte er nicht von Anfang skeptisch sein sollen bei der ersten Kontaktanbahnung durch die Polen vor ein paar Wochen? War das hier wirklich der polnische Marktführer für Windenergie? Und wofür brauchten sie eigentlich den Kontakt zu ihm? Wollten sie deutsches Know-How abziehen? In den Telefonaten und Mails hatte Jacek Kolawski die Zweifel Beyers nicht ausräumen können. Der Anblick der Warschauer Dependance von Polwind trug nicht unbedingt zur Vertrauensbildung bei. Und jetzt noch eine Fahrt nach Kielce? 200 Kilometer? Wie würden sie dorthin kommen? Vermutlich mit Stasius Wagen, dem Mini, in dem, hoffentlich, immer noch sein Koffer lag. Alexander Beyer setzte eine freundliche Miene auf, was ihm schwerfiel. „Freue mich sehr und bin gespannt.“   

Während der Fahrt durch die Stadt und später auf der alten Schnellstraße versuchte er ein bisschen zu entspannen. Soweit dies die unebene Fahrbahn zuließ. Immer wieder stießen sie in Löcher. Aufgebrochene Fahrrillen. Spuren des langen Winters. Er stellte sich die junge Frau vom Flughafen vor. Wieso hatte sie ihn nicht angesprochen? Wie schön wäre das gewesen: Fahrt mit dem Taxi zum modernen Hotel. Verhandeln. Ausruhen. Später dann ein Drink an der mondänen Bar. Whiskey, Wodka. Und vielleicht der Versuch, ihn mit ein paar amourösen Avancen zur Vertragsunterzeichnung zu bewegen? Alexander Beyer hätte nichts dagegen gehabt. Für die attraktive Frau am Flughafen mit der geheimnisvollen Aura hätte er notfalls selbst ein paar deutsche Windräder in Polen aufgestellt.

Stattdessen saß er nun hier fest; auf der einspurigen Schnellstraße rollte erst einmal gar nichts mehr. Ein Unfall. Stau. Ambulanz und Polizei. „Ich dachte, die polnischen Autobahnen seien fertig.“ Sagte Alexander Beyer vom Rücksitz des Mini Rovers zu Jacek Kolawski, der auf dem Beifahrersitz saß und mit einem eleganten Tablet herumhantierte, wenn er nicht gerade wieder seinen Schal zur Seite warf. „Nur offiziell. In Wahrheit natürlich noch nicht. Wahrscheinlich werden sie nie fertig.“

„Warum nicht?“ fragte Alexander Beyer. Der Pole drehte sich zu ihm um, während Stasiu den Sendersuchlauf des Radios betätigte und nach kurzer Überlegung einen Hip-Hop-Kanal einstellte. „Zu viel Korruption“, erklärte Jacek Kolawski dem Deutschen die Lage. „Das Geld aus Brüssel kommt zwar in Polen überall an, nur leider nicht da, wo es laut Planung hingehört und hinsoll.“ Er lächelte. Auch sein Bruder hatte jetzt, wie Beyer im Fahrerspiegel erkennen konnte, ein breites Lächeln auf dem Gesicht. „Das ist schade“, sagte Beyer, der sich zunehmend unwohl fühlte. In Gemeinschaft der beiden Männer und in diesem Auto. Worauf hatte er sich bloß eingelassen? Nur das kleine Kruzifix am Spiegel beruhigte ihn etwas. Obwohl die Mafia in Polen sicherlich auch zur Kirche ging.

„Es hilft nur Privatinitiative“, sagte Jacek Kolawski jetzt. „Alles andere ist künstlich. Ein Trick. Aber ich werde ihnen, wenn es hier weitergeht, etwas zeigen, was Sie sehr interessieren wird und was wir nicht sehen könnten, wenn die Autobahnen schon fertig wären.“ „Da bin ich gespannt“; sagte Alex Beyer und schaltete sein iPod ein. Nichts interessierte ihn weniger als Jacek Kolawskis nächste Überraschung. Während Beyer lustlos seine Mails checkte, darunter ein rührender Hinweis seiner Frau, doch etwas Landesspezifisches für die Kinder zu kaufen, fragte er: „Wie kommt es, dass sie beide so hervorragend Deutsch sprechen?“ „Das ist doch logisch“, antworte Stasiu, der nun ohne zu blinken an der ungesicherten Unfallstelle vorbeifuhr. „Wir sind in Deutschland groß geworden. Unsere Familie, Eltern leben immer noch dort. Wir sind erst seit fünf Jahren zurück in Polen.“

Das erstaunte Alexander Beyer. „Aber Sie sind Polen?“ „Ja, natürlich, hier geboren. In Kielce, aber als wir klein waren, sind unsere Eltern weg. Sie wissen, Kriegsrecht und so. Erst Fulda, dann Dortmund. Unsere Mutter hat geputzt, der Vater meistens getrunken, und wir haben studiert. Vor ein paar Jahren haben wir uns gedacht: Wieso nicht zurückkommen? Und hier sind wir! Polwind, unangefochtener nationaler Marktführer. Mittlerweile liefern wir sogar nach Asien, aber das wissen Sie ja schon.“ Alexander Beyer nickte. Er erinnerte sich an die Homepage des Unternehmens, die erstaunlich professionell wirkte. Im Unterschied zu allem, was er bisher hier und heute im persönlichen Umgang erlebt hatte. Jacek Kolawski schien trotz Tablet-Tätigkeit seine Gedanken zu erraten. „Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Unterkunft. Wir haben das Sofitel gebucht. Fünf Sterne. Warschau-Zentrum in Nähe der Altstadt. Wenn wir zurück aus Kielce sind, setzen wir Sie dort ab. Ihr Flug geht morgen früh, oder?“ „Ja“, Alexander Beyer war dankbar, als er den Namen des Hotels und die Kategorie hörte. Es gab ihm Sicherheit. Vielleicht wurde ja doch noch etwas aus dem Drink an der Hotelbar? Zur Not konnte man in Polen doch leicht eine Frau ansprechen und mit aufs Zimmer nehmen. Er hatte noch nie mit einer Polin geschlafen. Höchste Zeit, dachte er. Zeit ist Geld, und sah hinaus auf weite Felder und Wiesen, unvollendete Häuser. Es sah auch wieder jede Menge großflächige Anzeigen. Darunter eine Werbung für Media Markt, die er sogar verstand. „Nie dla idiotów!“ Sie waren besonders vor kleinen Straßendörfern zu lesen, die der Mini rasant passierte. Windräder sah Alexander Beyer keine.

Auch nicht, als der Mini durch eine leicht hügelige Landschaft fuhr. Viele Laster waren hier unterwegs. „Sehen Sie“, drehte sich Jacek Kolawski plötzlich um. „Das ist das, was ich meine.“ Beyer verstand nicht. „Die Ebene. Die Experten sind überzeugt, dass sie für die Windkraft ideal wäre.“ Das mochte so sein, überlegte Alexander Beyer, doch dann stellte er sich vor, wie die riesigen Windräder seiner Firma hierhin transportiert werden würden. Die Flügel. Man bräuchte mindestens doppelt so breite Straßen. Wussten das seine polnischen Geschäftspartner, wenn man sie so nennen konnte, nicht? Wollten sie ihn reinlegen? Hielten sie ihn für so naiv? Alexander Beyer runzelte mit der Stirn. „Schmale Straßen“, sagte er nur. Jacek Kolawski schien zu verstehen. „Aber das Potential ist da“, sagte der Pole und der Fahrer Stasiu nickte. Also auch eine Sekte, sagte sich Alex Beyer. Idealisten und Träumer mit der Sehnsucht nach dem großen Erfolg. „Vielleicht“, sagte er, um das Gespräch zu beenden.

Er überlegte, was er seiner Frau mitbringen würde. Die Antwort war einfach: Parfüm, wie immer. Und den Kindern, den Jungs? Für ein Autogramm von Lewandowski musste man nicht nach Polen fahren. Für Langlauf und Ski-Springen interessierten sich die beiden nicht. Vielleicht etwas Folkloristisches? Nur was? Bisher kam ihm hier alles wie im Westen vor, nur etwas unfertiger und zum Teil protziger. Er überlegte; dabei schlief er langsam ein. Trotz Stasius rasantem Fahrstil und der nervigen Radio-Musik. Der frühe Flug forderte Tribut.

Als Alexander Beyer wach wurde, stand der Wagen. Er hörte das Klappern von Türen und blinzelte durchs Fenster. Sie waren da. Eine große, schnell hingebaute Fertigungshalle. Das konnte Alexander Beyer sofort erkennen. Noch etwas benommen stieg er aus. Strich sich über den Mantel. Jacek Kolawski grinste. „Es tut mir leid, dass wir Ihnen in unserem Büro in Warschau keinen Espresso anbieten konnten. Wir wollten während der Fahrt einen kurzen Kaffeestopp machen, doch als ich sah, dass Sie schlafen, dachte ich, es ist besser, wir fahren durch, um schneller hier zu sein. Ich zeige Ihnen kurz, was wir hier haben. Dann gibt es Kaffee.“ „Sehr nett“, sagte Alexander Beyer und unterdrückte ein müdes Gähnen.

Was er in der Halle sah, fand seine Wertschätzung: Viele, viele Solarzellen. Verpackt und unverpackt, aber sehr ordentlich angeordnet. Im hinteren Bereich der Halle sah es dagegen aus wie in einer herunter gekommenen Fabrik. Überall lagen Werkzeuge herum. Kleine Windräder. Marke Eigenbau. Er hob die Augenbrauen, Jacek Kolawski bemerkte es. „Wir produzieren für den Privatbedarf. Jeder Haus- und Landbesitzer kann sich sein eigenes Windrad aufstellen.“ „Rentiert sich das denn?“ Beyer dachte an die modernen, gigantischen Maschinen deutscher Bauart. „Bisher fertigen wir fast 60 Windräder im Jahr an, aber das Ziel sind 30 pro Monat.“ Klärte ihn Jacek Kolawski auf. Mit dem Stolz des visionären Start-Up-Unternehmers, der fest an den Erfolg glaubt. „Jedes Windrad erzeugt drei bis sechs Kilowatt. Das ist für den Anfang schon ganz gut.“

„Bekommen Sie staatliche Hilfe?“ fragte Alexander Beyer während er mit der Hand sanft über die Oberfläche eines Windrads strich. „Wie ich schon sagte, alles Privatinitiative“, sagte Jacek Kolawski, der nun etwas suchend zur Seite sah. „Aber mal sehen, was die ,Wind-Agenda 2030‘ der Regierung bringen wird. Vielleicht tut sich doch noch was für einzelne Anlagen. Würde mich überraschen. Ah, da kommt mein Bruder.“ Alexander Beyer schaute zur Seite und sah Stasiu, der mit einem Holztablett kam. Darauf zwei Espresso-Tässchen. Alexander Beyer nahm eine Tasse und sog den strengen Kaffeegeschmack auf. „Schmeckt prima“, sagte er spontan zu den beiden Polen, offenbar hatte er eine solche Espresso-Qualität in der polnischen Provinz nicht erwartet.

„Der Grund, wieso wir mit Ihnen kooperieren wollen“, sagte Jacek Kolawski, ebenfalls am Espresso schlürfend, „ist der: Wir glauben, es wäre gut, die kleinen polnischen Windräder in Deutschland produzieren zu lassen.“ Alexander Beyer drehte seine Tasse und nahm einen Schluck. „In Deutschland produzieren? Wissen Sie wie teuer das ist?“ „Wir haben alles durchgerechnet“, sagte Jacek Kolawski. „Es ist eine win-win-Situation für beide Seiten. Sie produzieren mit deutschem Know-How aber in polnischer Größe. Wir sorgen für die Distribution in Polen. Wenn Sie Glück haben, können Sie mit kleinen Rädern zusätzlich in Deutschland Profit machen, denn wenn der polnische Landbewohner Privatwindräder kauft, wieso dann nicht der Deutsche?“ Alex Beyer war verblüfft. Was der Pole sagte, klang vernünftig. Wieso war er nicht selbst darauf gekommen? Vielleicht weil ihm das interkulturelle Wissen fehlte? Die beiden Kolawski-Brüder kannten auch die deutsche Perspektive. „Das hört sich nicht uninteressant an, meine Herren“, sagte Alexander Beyer und nahm hastig den letzten Zug. „Nicht uninteressant.“ Er reichte die Tasse zu Stasiu, der die beiden wieder allein ließ. „Ich möchte ihnen noch etwas zeigen.“ Jacek Kolawski berührte Beyer höflich am Arm. „Kommen Sie.“ Sie gingen vorbei an einer Reihe von schmutzigen Turbinen. Der polnische Unternehmer öffnete ein Tor, den Zugang zu einer weiteren Fertigungshalle. „Wow!“ Alexander Beyer staunte. Er sah eine große, beeindruckende Segelyacht.

„Wie kriegen Sie die zum Meer?“ „Oh, das ist kein Problem“, sagte der Pole. Langsam gingen sie um das Schiff herum. Ein Handwerker führte an einigen Stellen Schleifarbeiten aus. „Wir haben festgestellt, dass man für Yachten ziemlich ähnliche Bauelemente wie für Windräder benötigt, also haben wir uns gesagt: Warum keine Yachten bauen? Vor einem Jahr haben wir angefangen. Das Geschäft läuft sehr zufriedenstellend.“ Zum ersten Mal heute konnte Alexander Beyer richtig durchatmen. Früher als Junge war er mit seinem Vater oft zur See gefahren. Nach Holland oder an die Nordsee. Solch ein Boot war stets der Traum seines Vaters gewesen, doch das Geld hatte nicht gereicht. Der Vater hatte sich mit einem kleinen Boot, einer Jolle, zufriedengeben müssen. Im Pflegeheim, wo der Vater seit drei Jahren lebte, hing aber ein Bild von einem Segelschiff an der Wand. Alex Beyer spürte, wie in ihm ein Gefühl von Nostalgie aufstieg. Tränen. „Sehr schön.“ Sagte er und presste die Lippen zusammen, wie er es als Manager gelernt hatte.

Jacek Kolawski rief dem Arbeiter etwas auf Polnisch zu. Der Mann antwortete. Kolawski nickte. „Wenn wir uns in diesem Monat einig werden, bekommen Sie dieses Schiff hier gratis dazu. Nächsten Monat ist es fertig.“ Alexander Beyer lächelte. „Wie war das mit der Korruption in Polen?“ „Aber nein“, verteidigte sich Kolawski, „das ist etwas völlig anderes. Das ist ein Gastgeschenk unsererseits. In Polen ist das üblich. Korruption wäre es, wenn ich mir mithilfe der Steuerzahler ein Schiff bauen würde und es für den vierfachen Preis auf dem Markt anbieten würde. Das hier ist reine Privatinitiative.“ Alexander Beyer lächelte. „Ja, ja. Schon ein schönes Schiffchen. Über die Produktionskosten der Räder müssen wir natürlich noch im Detail reden. Das ist noch ein langer Weg zwischen Münster und Kielce.“ Jacek Kolawski nickte. „Wir haben eine Aufstellung aller Kosten gemacht. Mein Bruder wird Ihnen die Unterlagen geben. Er fährt Sie auch wieder nach Warschau zurück.“ „Ach, Sie bleiben hier?“ Alexander Beyer war überrascht. „Ja, meine Freundin hat morgen Namenstag. Familientreffen. Außerdem möchte sie mit mir ins Wellnessbad gehen.“ „Aha.“ Alexander Beyer wusste nicht, ob das die Wahrheit war oder ein Bluff. „Also – dann geht die Reise wieder zurück nach Warschau?“ „Auf dem Weg gibt es ein gutes Restaurant. Ich werde meinem Bruder sagen, dass Sie dort stoppen sollen. Sie müssen ja einen Bärenhunger haben.“ Er verabschiedete sich.

*

Es dämmerte bereits, als Stasiu den deutschen Energiemanager Alexander Beyer vor dem Eingang des Sofitel Hotels mitten in Warschau absetzte. Nach einer rasanten Fahrt mit gutem Essen. „Wann soll ich Sie morgen abholen?“ fragte der Pole. „Oh nicht nötig, ich werde ein Taxi nehmen. Sie haben sicher noch anderes zu tun, als deutsche Manager durch den Warschauer Verkehr zu schleusen. Sehr freundlich.“ Er stieg aus, öffnete den Kofferraum und zog den Koffer heraus. Er hob die Hand, um sich vom Fahrer zu verabschieden. „Halt“, rief Stasiu, „das wichtigste haben Sie vergessen. Die Kostenauflistung.“ „Ach, richtig“, bemerkte Alexander Beyer und wunderte sich darüber, dass er sie vergessen hatte, denn das Projekt interessierte ihn schon ein wenig. Wenn es auch kein Milliardengeschäft versprach. Polen war nicht Frankreich oder die Türkei, aber in Zeiten der Krise musste man nehmen, was man kriegen konnte. Er nahm den Lederband und schritt zum Hoteleingang. „Do widzenia“ rief ihm der Fahrer hinterher. Alexander Beyer wusste, dass dies so etwas wie auf Wiedersehen heißen sollte, konnte es aber nicht nachsprechen. „Auf bald!“ rief er und schritt über den Teppich zur Rezeption.

Es war ein geräumiges Zimmer. Mit Barschrank, Fernsehschirm und luxuriösem Bad. Er blickte auf die Uhr. Letzte Chance zum Einkauf. Er stellte den Koffer neben das Bett, machte sich etwas frisch und ging hinaus auf den Flur zum Aufzug. An der Rezeption erkundigte er sich nach einem Stadtplan und fragte, wo man einkaufen könne. Alexander Beyer fand den Weg schnell und sicher. In der Parfümerie kaufte er das immer gleiche Parfüm, das seine Frau seit zwanzig Jahren benutzte, in einem Sportgeschäft fand er einen Fußball mit den Autogrammen aller polnischen Nationalspieler. Dazu zwei Energie-Drinks, die er noch nie in Deutschland gesehen hatte. Darüber würden die Jungs sich freuen. Zumindest für ein paar Stunden.

Er ging zurück zum Hotel, ließ sich den Schlüssel geben und fuhr mit dem Aufzug herauf. Schon als er zur Tür ging, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Die Tür war angelehnt. Er öffnete sie und erschrak. Der Inhalt des Koffers lag verstreut auf dem Bett. Seine Unterwäsche, der Kulturbeutel, geschäftliche Unterlagen. Alles durcheinander. Doch was fehlte? Sein Portemonnaie mit seinen Kreditkarten hatte er sowieso bei sich. Was hatten der oder die Täter also gestohlen? Er schaute auf das Durcheinander und bemerkte erst langsam, was fehlte: Die Ledermappe. Mit der Auflistung der Kosten. Er rief bei der Rezeption an, sagte etwas auf Englisch. „Someone has broken in. Something was stolen.“ Zwei Männer kamen. Hausdetektive. Fragten ihn, wann er weggewesen sei, was genau er vermisse. Sie gingen zusammen in einen Raum mit unzähligen Monitoren. Einer der Hausdetektive setzte sich an einen Computer und fingerte an einem Programm herum. Da – dies war der Flur mit Alexander Beyers Zimmer. Man sah, wie er das Zimmer verließ, um in die Stadt zu gehen. Und wer war das? Eine Gruppe von Leuten, die aber weitergingen und jetzt eine Frau. Groß, mit dunklen Haaren, einer Sonnenbrille und einem Businessanzug. Ohne Anstrengung öffnete sie die Tür zu Alexander Beyers Zimmer und trat ein, um bald darauf mit der Ledermappe herauszutreten. Der Hausdetektiv zoomte auf die Frau heran. Drückte auf Standbild. „Kennen Sie die Frau?“ fragte er Alexander Beyer. „Nein“, sagte Beyer, „oder, vielleicht doch.“ Die Hausdetektive schauten ihn skeptisch an. „Also was: Ja oder nein?“ „Ich glaube, ich habe die Frau heute Morgen am Flughafen gesehen.“ „Was hat sie dort gemacht?“ „Jemand abgeholt, nehme ich an.“ „Wen?“ Die beiden Hausdetektive nahmen Alexander Beyer ins Visier. Er kam ihnen verdächtig vor. „So wie es jetzt aussieht, doch mich.“ „Was ist in der Mappe?“ „Etwas Geschäftliches. Ich … ich bin beruflich hier.“ Einer der Hausdetektive begann zu lächeln. „Das ist doch kein Verbrechen, oder?“ „Nein, nein“, stotterte Alexander Beyer. „Ganz bestimmt nicht.“ „Mit was für Leuten haben Sie sich getroffen? Mit welcher Firma?“ „Polwind“, sagte Alexander Beyer. Mehr und mehr pikiert. „Und wie sind die Gespräche verlaufen?“ „Gut“, sagte Alexander Beyer, „ich konnte nichts Verdächtiges feststellen. Sie haben mir auch dieses Zimmer gebucht.“ „Aha“, sagten die Detektive. „Und hatten deshalb vielleicht auch den Schlüssel, um bequem in ihr Zimmer hereinzukommen?“ „Glauben Sie das wirklich?“ Alexander Beyer verspürte den Wunsch, bei Jacek Kolawski anzurufen und ihm zu sagen, dass er beraubt worden sei und ihn dazu zu zwingen, zu sagen, dass dies alles nicht wahr sei. „Wollen Sie die Nummer haben?“ schlug er den Hausdetektiven vor. „Beruhigen Sie sich“, sagte der ältere der beiden. „Vielleicht hat diese Frau ja wirklich nichts mit Ihrer Solarfirma zu tun. Vielleicht ist sie eine Konkurrentin, die ihr Geschäft verhindern möchte.“

Das war zu viel wilder Osten für Alexander Beyer. „Was wird nun geschehen?“ fragte er die Hausdetektive. „Wir können die Polizei rufen.“ „Können?“ Alexander Beyer verstand nicht. „Wenn Sie wollen. Wenn Sie nicht wollen, rufen wir sie nicht. So wie es aussieht, ist ihnen tatsächlich nur die Mappe geklaut worden. Ist die Firma sauber, werden sie sich melden. Wenn nicht, sollten Sie besser Ihre Konten sperren lassen.“ „Wieso das denn?“ Alexander Beyer wurde unruhig. „Weil man als Solarfirma jede Menge andere Geschäfte abwickeln kann. Vielleicht haben Ihre Geschäftspartner sich in Wahrheit nur für Ihre Kreditkarten interessiert. Mehr braucht man nicht zum Hacken.“ „Aber ich hatte das Portemonnaie immer bei mir. Immer unter Kontrolle.“ „Dann ist doch alles gut…“. „Außer vielleicht in der Zeit, als ich geschlafen habe.“ „Das ist nicht so gut“, sagten die beiden Detektive fast gleichzeitig und guckten ihn melancholisch an. „Und was ist mit der Frau? Werden Sie sie suchen?“ wollte Alexander Beyer wissen. Die beiden schauten auf den Bildschirm. „Wissen Sie, wie viele Frauen in Polen so aussehen? Tausende! Diese Frau hat nichts Besonderes. Ein Dutzendtyp.“ Alexander Beyer seufzte. Er saß in der Falle.

Das Beste, was er jetzt machen konnte, war, seine Frau anzurufen, damit sie sein Konto so schnell wie möglich sperren würde, doch sollte es sich bei Polwind wirklich um ein Gangsterteam handeln, war natürlich schon alles zu spät. Das Geld abgebucht und in den unendlichen Weiten des Internets verschwunden. Er lockerte die Krawatte. „Jetzt brauche ich einen Wodka“, sagte er. Die Hoteldetektive lächelten. „Können Sie haben. Das geht auf Rechnung des Hauses. Aber sagen Sie uns noch: Wo war die Firma eigentlich? Wo ist der Sitz? Hier in Warschau?“ „Sie sagten etwas von Kielce.“ Alexander Beyer fühlte sich nicht gut. „Ist Ihnen dort etwas Verdächtiges aufgefallen?“ Er dachte nach. Jetzt, nach dieser aktuellen Entwicklung, kam ihm alles verdächtig vor. „Die Yacht fand ich komisch“, sagte er. Die Hausdetektive schauten ihn ungläubig an. „Ja, in der Fertigungshalle für Windräder war auch eine Segelyacht.“

Einer der beiden Hausdetektive steckte sich eine Zigarette an und hielt auch Alex Beyer eine hin, die der Deutsche dankend annahm. Der Rauch beider Zigaretten stieg in die Luft. „Ich habe nie gehört, dass man in Kielce Schiffe baut. Kann es sein, dass Sie in Danzig oder Gdynia waren?“ fragte der Detektiv. Sein Kollege schüttelte zur Bestätigung den Kopf. Ein SMS-Signal. Alexander Beyer las die Botschaft seiner Frau: „Wann kommst Du?“ Er schaute die Männer an, dann blickte er wieder auf das Display. „Ich weiß es nicht. Wir waren ziemlich lange unterwegs.“    

(2013/2024)

© mee

Die Erzählung wurde inspiriert durch den Artikel „Polen will grüner werden“ von Ulrich Krökel in „Die Zeit“ (3. Februar 2011). 

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