
Zwei Monate war ich 2019 in England. Ich fuhr auf der falschen Seite, gewöhnte mich nur langsam an Kreisverkehre, aus denen ich jedes Mal erleichtert herausfand, wenn es ohne Unfall und mit der richtigen Ausfahrt gelang. Ich war untergebracht im Newman College bei Oxford, genauer: in Littlemore. Ein Ort, der nach wenig klingt und doch Weltgeschichte atmet. Denn hier, am Rand der Universitätsstadt, entschied sich der anglikanische Geistliche John Henry Newman für einen Weg, der ihn alles kostete – und alles veränderte: den Übertritt in die lateinische Kirche. Arvo Pärt hat ihm dafür den Littlemore Tractatus komponiert. Ich wohnte neben Newmans Zimmer. Es war, als hätte er es nur kurz verlassen, um frische Luft zu holen. Das Bett, der Tisch, das Licht – alles war von seiner Abwesenheit erfüllt.
England war zu dieser Zeit selbst im Übergang. Der Brexit lag wie eine drohende Verheißung über der Gesellschaft. Im März ebenso wie im September. Man spürte eine Mischung aus Unsicherheit und aufwallender Hoffnung – eine Sehnsucht, wieder Insel zu sein, ganz für sich. Der Philosoph James Orr, den ich bei einer Veranstaltung kennenlernte, sprach darüber mit britischem Witz und intellektueller Tiefe, obwohl er selbst in Brüssel geboren ist. Andere klangen müder: ein Deutscher, der mit seiner Frau in London lebte, eine ehemalige Lehrerin, die Boris Johnson für einen „Clown ohne Führungstauglichkeit“ hielt. Die Ereignisse danach gaben ihr Recht – auch wenn damals niemand ahnen konnte, dass die Welt bald darauf in einer Pandemie versinken würde. Jeder Einzelne wurde zu einer Insel.
Ich fuhr nach Newcastle. Übernachtete im Premier Inn, stellte mir vor, wie hier einst die größten Schiffe der Welt zu Wasser gelassen wurden. Der Hadrianswall erinnerte an römische Größe – und ihr Vergehen. In einem Café in Tynemouth bat ich um Kuchen, Kaffee und Strom für mein sterbendes Smartphone. „What can I do for you?“, hatte die Kellnerin gefragt. Eine Szene wie aus einem Roman von Evelyn Waugh, mit einem Hauch Beckett.
Oxford empfing mich mit einem melancholischen Lächeln. In der Dominikanerkirche Blackfriars saß ich lange still. Schaute auf leere Holzstühle. Hier hatte ich 1997 geprüft, ob ein Ordensleben mein Weg sein könnte. Was war aus den jungen Dominikanern von damals geworden? Wo lebten sie? Waren sie noch in weißen Kutten unterwegs – oder längst in Zivil, irgendwo im Leben verloren oder an einem Ziel angekommen? Ich hatte mir 1997 vorgestellt, wie ich – Jahre später – als Ordensmann in Oxford einer Frau begegnen würde, die damals noch nicht wissen konnte, was Oxford ihr einmal bedeuten würde. Diese Vorstellung genügte mir, um nicht Dominikaner zu werden. Ich sah sie 2019 nicht. Aber ich dachte an sie, als ich an Doppeldeckerbussen, Colleges, Restaurants und Buchhandlungen vorbeilief.
Sicher in diesem Labyrinth der Erinnerungen fühlte ich mich ausgerechnet in einem polnischen Supermarkt. Dort roch es nach Heimat. Oder vielleicht nach einem Europa, das nie ganz untergehen würde.
In Stratford waren die Schwäne schöner als die Touristen. Shakespeare wirkte wie ein Museumsgespenst, sein Grab fast zu real. Stonehenge rauschte im Regen an mir vorbei – ein Ort, der alles versprach und nichts sagte. In Cardiff sprach ich mit einem Musikprofessor über Klassenschranken und soziale Übergänge, über Identität und Veränderung – Themen, die später auch bei Douglas Murray anklingen sollten. Ich hörte seinen Vortrag in Oxford, aber ohne innere Beteiligung. Ich hatte einen anderen Redner erwartet.
Dann das Abendessen. Die Fürstin. Der Kardinal. Meine eigenen Worte klingen mir bis heute nach. Ich staune über sie. Damals konnte ich nicht ahnen, was ich erst jetzt langsam zu verstehen beginne: „To live is to change, and to be perfect is to have changed often.“ (J.H. Newman, Essay on the Development of Christian Doctrine)
Am Ende meiner Reise stand ich im Oratorium in Birmingham, bei Newmans sterblichen Überresten – oder dem, was davon geblieben war. Er wollte mit seinem engsten Freund beerdigt werden. Ich spürte, dass mir eine solche Vorstellung fremd war. Ich dachte an Frauen. An eine andere Form von Nähe. An das, was bleibt, wenn alles vergeht. All things must pass. Draußen liefen Regentropfen über eine Marienstatue, als würde sie weinen. Worüber, wusste ich nicht. Oder ich wollte es nicht wissen.
Text: mee