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Tagebücher und Notizen
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Herzensgruft
Ich schaue auf die Bilder, die wir damals in Wien gemacht haben. Strudelhofstiege, Freud-Museum, Kahlenberg – und ich erinnere mich an unsere Wege durch die Stadt. Hinunter in die Gruft der Habsburger, zu den kolossalen Särgen, umgeben von Touristenheeren, in die andächtige Finsternis des Stephansdoms. Eine junge, schöne Frau sehe ich auf diesen Aufnahmen, ein…
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Ein Halt bei Steiner
In meiner Erinnerung ist die Stadt weiß, als hätte die Sonne sie selbst neu gestrichen. Zwischen Wien und Warschau legte ich einen Zwischenstopp ein, ließ die Koffer im Auto und stieg in die Altstadt hinab. Auf der Ventúrska, gegenüber der Universitätsbibliothek von Bratislava (Pressburg), blieb ich stehen: eine Buchhandlung, eine Gedenktafel – Antikvariát Steiner. Gegründet,…
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Lemberg, Bahnhof Europas
Es war im Sommer 2012: Ich stand im Bahnhof von Lemberg, einem jener Monumente, die die Habsburger zurückließen wie ein vergessenes Möbelstück: schwer, würdevoll, mit Patina. Das Portal hob sich auf in den Himmel wie eine steinerne Krone, die Hallen waren gewölbt, die Treppen glänzten vom Gebrauch ungezählter Schritte. Im Inneren überraschte mich die Sauberkeit,…
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Im Turm des Kopernikus
Es donnert, als wir den Turm von Kopernikus betreten. Ein Sommergewitter jagt über das Haff, die Wolken reißen auf, Regen und Sonne wechseln einander ab wie auf einer schlecht justierten Himmelsuhr. Im Halbdunkel sitzt er vor uns – die lebensechte Figur, vertieft in das fulminante Werk, das die Welt aus den Angeln heben wird: De…
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Antwort in Amsterdam
Das jüdische Viertel: war es wirklich so leer, wie ich es in Erinnerung habe? Ohne Türen, ohne Eintritt? Bestimmt war es nicht mein Amsterdam von früher – fröhlich und verrucht, locker und geheimnisvoll. Eher ein Schmelztiegel der Kolonien. Max Havelaar schien zwischen den Häusern zu stehen, ein unsichtbarer Zeuge. Fahrräder, Kroketten, Ausstellungen. Ein Unbekannter namens…
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Englisches Journal
Zwei Monate war ich 2019 in England. Ich fuhr auf der falschen Seite, gewöhnte mich nur langsam an Kreisverkehre, aus denen ich jedes Mal erleichtert herausfand, wenn es ohne Unfall und mit der richtigen Ausfahrt gelang. Ich war untergebracht im Newman College bei Oxford, genauer: in Littlemore. Ein Ort, der nach wenig klingt und doch…
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Prager Metro
Die Rolltreppe schoss steil in die Tiefe, wie ein schräg gestellter Zeiger, der in eine andere Zeit deutete. In der Prager Metro, irgendwo zwischen Malostranská und Hradčanská, senkten sich die Gespräche, das Licht flackerte für einen Moment – und ich erinnerte mich an die Stimme von Václav Havel und den Mut der Charta 77. Damals,…
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Stummer Spalt
Die Fahrt begann wie ein Übergang, fast beiläufig: das Auto, der Brenner, der erste Espresso an der Raststätte. Doch etwas störte ihn. War es der Rost an den Leitplanken? Er schimmerte wie ein Zeichen. Zerfall, verborgen unter Asphalt und Versprechen. Die Fördermittel hatten daran nichts geändert. Wie konnte das sein? Diese Frage blieb und schwebte…
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Ein ungestimmter Chor
Ich erwache mit dem ersten Licht. Die längsten Tage des Jahres, als strecke der Himmel seine Stunden aus, um uns zu erinnern: Noch ist Zeit. Am Firmament ein klares, seidiges Blau – wie der erste Ton eines Nocturne von Chopin, hingehaucht, fast unsichtbar. Eine Melodie für den Übergang zwischen Traum und Tag. Ich schalte die…
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Warschauer Freiheit
Es ist gut, wieder hier zu sein. Ich bin dankbar für viele Begegnungen in Berlin im vergangenen Jahr. Doch ich habe mich dort nicht mehr wohlgefühlt. Zu viel Kontrolle, zu wenig Vertrauen. Was mich heute an Polen fesselt, ist nicht mehr die postkommunistische Melancholie, die mich vor 25 Jahren angezogen hat – dieses schroffe Nebeneinander…