
In meiner Erinnerung ist die Stadt weiß, als hätte die Sonne sie selbst neu gestrichen. Zwischen Wien und Warschau legte ich einen Zwischenstopp ein, ließ die Koffer im Auto und stieg in die Altstadt hinab. Auf der Ventúrska, gegenüber der Universitätsbibliothek von Bratislava (Pressburg), blieb ich stehen: eine Buchhandlung, eine Gedenktafel – Antikvariát Steiner. Gegründet, so konnte ich lesen, wurde der Laden 1847. Sechzehn Familienmitglieder wurden zwischen 1942 und 1944 in Konzentrationslagern ermordet. Hebräische Buchstaben auf Stein.
Die Holztür der Buchhandlung stand offen, der Luftzug roch nach Büchern und dem geduldigen Atem der Geschichte. Keine Selbstverständlichkeit. Das Antiquariat überstand Arisierung, Deportationen, Beschlagnahmungen – und verschwand dennoch, wie so vieles, im langen Schatten des 20. Jahrhunderts. Dann, 1991, nach der Wende, geschah das Unwahrscheinliche: Selma Steiner, eine Enkelin, eröffnete den Laden neu. Als wollte eine Stimme, die nie hätte verstummen dürfen, noch einmal anheben.
Drinnen: Regale mit alten Drucken, Stadtansichten, Philosophie, Kostbarkeiten, die man in den Händen drehen möchte wie Kiesel aus der Donau. Geführt wird der Laden inzwischen von Dagmar Ložeková und ihrer Tochter Zuzana. Ein Dienst am Buch, an der Stadt, an der Erinnerung. Ich blätterte damals, sah Fotos von Portalen und Innenhöfen und dachte: Diese Stadt ist ein europäisches Palimpsest. Deutsch, Ungarisch, Slowakisch, Jiddisch – Sprachen wie Schichten von Kalk. Habe ich deshalb Bratislava so weiß in Erinnerung?
Nur Schritte entfernt, an der Ventúrska 16, glänzte eine bronzene Tafel. Sie erinnert an Adolf Frankl (1903–1983), einen jüdischen Maler und Sohn dieser Stadt, der 1944 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. Er überlebte und schuf später den Zyklus „Visionen aus dem Inferno“. In diesen Bildern flammen Linien und Farben wie Brandmale. Sie zeigen Baracken, Gesichter, Qualen, aber auch Hoffnung. Frankl malte nicht als Chronist, sondern als Überlebender, der Zeugnis ablegen musste. So wie Steiner mit Büchern, antwortete Frankl mit Leinwand und Farbe auf die Frage: Was kann man dem Ungeist entgegenhalten? Eine Frage, die nicht nur in Europa wieder aktuell geworden ist.
Bratislava birgt weitere jüdische Erinnerungsorte, die wie Knoten ein Netz gegen das Vergessen bilden. Da sind die Stolpersteine, kleine Messingtafeln im Pflaster, eingelassen vor Häusern, in denen Juden lebten, bevor sie deportiert wurden. Ich kenne sie gut aus Berlin. Am Donauufer wiederum liegt das Chatam Sofer Memorial, die Grabstätte des großen Rabbiners Moses Schreiber, einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten Europas. Das moderne Memorial ist ein stiller Raum, ein spirituelles Gegengewicht zum Lärm der Stadt. Und schließlich das Jüdische Kulturmuseum in der Altstadt, das Artefakte und Geschichten aus der langen jüdischen Tradition Pressburgs bewahrt.
Man kann Antisemitismus nicht mit einem Buchladen oder einer Gedenktafel besiegen. Aber man kann Bedingungen für Erinnerung schaffen. Man kann lesen, sehen, stehen bleiben. Man kann begreifen, dass eine Stadt mehr ist als ihre Fassaden. Vielleicht habe ich Bratislava deshalb als Weiß in Erinnerung behalten.
Text: mee