Wilhelm

Foto: Archiv

Mein Vater hat einen älteren Halbbruder namens Wilhelm, der uns oft besucht und meiner Mutter einmal eine schöne große, robuste Kerze mit antiken erotischen Szenen schenkt, die im Wohnzimmer einen Ehrenplatz bekommt. Das perfekte Phallus-Symbol. Ich mag ihn, weil man bei ihm Lebenserfahrung, rauen Charme und Cleverness spürt. Auch meine Mutter ist angetan von ihm. Sie schätzt seinen Humor und seine List, seine Freude daran, die Regeln mit Geschick und Ironie zu unterlaufen. Damit ist er das Gegenteil meines Vaters, der Gesetz und Strenge verkörpert.

Wilhelm war im Krieg Fallschirmspringer. Nach der Kriegsgefangenschaft in Belgien, die er auf einem geritzten Selbstporträt in Ton festgehalten hat, ist der gelernte Anstreicher als Arbeiter bei Thyssen beschäftigt, was zwischen den beiden Halbbrüdern, wie man sich leicht vorstellen kann, für Eifersucht und Rivalität sorgt. Arbeiterkluft oder Anzug mit Krawatte – mehr als nur ein unterschiedlicher Arbeitskleidungsstil. Mein Vater scheint aus Sicht Wilhelms das leichtere Leben zu haben. Den Zweiten Weltkrieg hat mein Vater als von Mutter und Tanten gut behütetes Kind in Duisburg und in der Nähe von Magdeburg erlebt, nicht im Kriegseinsatz wie Wilhelm, der mit Anfang 50 bereits völlig ergraut ist und auf mich wie ein alter Mann wirkt. Auch bei der Wahl der Frau scheint mein Vater mehr Glück gehabt zu haben, denn so richtig begeistert ist Wilhelm nicht von seiner Frau Christel. Auch meinem Vater und mir geht diese Tante mit ihrem, wie wir finden, dummen Geplapper gehörig auf die Nerven.

Dass wir dieses Geplapper so drastisch erleben, liegt daran, dass meine Eltern und ich zu Beginn der 1970er Jahre häufig zusammen mit Wilhelm und seiner Frau nach Holland fahren, und zwar nach Plasmolen, in der Region Limburg; zu einem See, der mit einem Kanal verbunden ist. Wilhelm, der ein kleines Motorboot besitzt, hat dieses Erholungsparadies entdeckt. Früh am Sonntagmorgen geht die Reise mit zwei Autos vom Ruhrgebiet aus los. Dort angekommen, schlagen die Frauen Stühle und Liegen auf, um sich zu sonnen, während die Männer mit dem Boot auf dem See tuckern. Beliebtes Ausflugsziel ist der Yachthafen, den man erreicht, wenn man eine Brücke unterquert, die den See teilt. Dort trinken die ungleichen Brüder den ein oder anderen Jenever. Umgeben von fröhlichen Holländern. Manchmal komme ich mit. Die Stimmung ist entspannt, locker. Die Leute sprechen eine drollige Sprache, können aber bei Bedarf sofort auf Deutsch umstellen. Ich bin beeindruckt.

Überhaupt ist dieses Plasmolen viel schöner als die Umgebung, die ich sonst in Walsum und Duisburg zu sehen gewohnt bin. Schöner als der Rhein und der Duisburger Hafen. Schöner auch als die Sechs-Seen-Platte in Duisburg-Wedau, zu der wir manchmal am Wochenende fahren und die wie eine Erholungs-Oase für erschöpfte Arbeiter inmitten der Industriestadt liegt. Doch dort, wo viele Jugendliche und Männer ihre ferngesteuerten Miniaturmotorboote über das Wasser düsen lassen, ist man immer noch in Duisburg, dieser dunklen, irgendwie bedrohlich und bedrückend wirkenden Stadt, die im Zweiten Weltkrieg heftigen Attacken durch britische Bomber ausgesetzt war und den düsteren Geschmack des Krieges, wie Cees Nooteboom es in seinem Roman „Paradies verloren“ richtig erkannt hat, immer noch in sich trägt. In Plasmolen dagegen ist man weit entfernt von dieser Friedhofs-Atmosphäre in schwarz-weiß-grau. Man ist mitten in der Natur. In einer anderen, helleren schöneren Welt, wo das Leben leichter und unbeschwerter zu sein scheint.

Auch meine Eltern mögen es in Plasmolen, doch mein Vater, der sich schon immer für Segelschiffe interessiert hat und sogar eine Mayflower in Miniaturgröße penibel nachgebaut hat, die auf der Kommode im Wohnzimmer thront, ist auf Dauer nicht zufrieden damit, als Gastpassagier auf dem Motorboot seines älteren Bruders zu sitzen, der in einer Hand lässig eine Zigarette hält, während er mit der anderen Hand das Steuer und den Motor kontrolliert. Mein Vater will sein eigener Kapitän sein.

Und so kommt es, dass er sich eine Jolle kauft, die man auf einem Anhänger transportieren kann. Schnell lernt er die benötigten Segelregeln, ohne jedoch einen offiziellen Segelschein zu absolvieren. Den braucht man in Holland auch nicht – im Unterschied zum bürokratischen Deutschland. Von Onkel Wilhelm bekomme ich eine gelbe Schwimmweste geschenkt und darf mit den beiden zusammen segeln. Was nicht so ungefährlich ist, weil die Segel ständig in Bewegung sind und die Jolle im Unterschied zum Motorboot ziemlich kippelig wirkt. Außerdem hat das Boot, dort wo das Holzschwert reinzustecken ist, eine offene Ritze, durch die manchmal Wasser hereinschwappt, was mich – noch ohne physikalische Grundkenntnisse ausgestattet – misstrauisch macht. Hat dieses Boot nicht ein Loch? Das Motorboot wirkte solider auf mich. Doch mein Vater ist glücklich. Er kann halsen, gegen den Wind stechen und vieles mehr. Dabei spricht er stolz von der „christlichen Seefahrt“, wenn es darum geht, nicht mit anderen Schiffen zu kollidieren, sondern die Vorfahrtsregeln, die auch auf dem Wasser gelten, zu beachten. Steuerbord, backbord. Steuerbord hat Vorfahrt. Selbstsicher winkt er den Besitzern der großen Segelschiffe, die auch in Plasmolen unterwegs sind, zu, was Onkel Wilhelm mit einem ironischen Schmunzeln zur Kenntnis nimmt. Lieber zündet er sich eine Zigarette an, als dass er viel Kraft für freundliche Gesten aufwendet. Der alte Fuchs. Manchmal hat Wilhelm auch einen Fotoapparat dabei, eine in Leder verpackte Leica, auf die er sehr stolz ist und die er wie ein Heiligtum hütet. Sich selbst lässt dieser Mann, der im Unterschied zu meinem Vater bei den Ausflügen keine sportliche Badehose trägt, sondern ein weißes Unterhemd mit einer beigefarbenen kurzen Hose, nur ungern fotografieren.

Ich bin vier, fünf Jahre alt und nicht so begeistert vom Segeln wie mein Vater. Mir gefällt dieser endlose Zick-Zack-Kurs nicht, weil man Rücksicht auf den Wind nehmen muss. Außerdem mag ich meine Rolle als Matrose an Bord meines Vaters nicht. Ich will unabhängig und eigenständig sein. Ich will ein Schlauchboot haben, wie ich es bei holländischen Kindern sehe, die damit unterwegs sind. Am liebsten ein langes Kajak, wie es (wenn auch aus Holz) die Indianer in den Winnetou-Filmen haben, die ich mit Leidenschaft am heimischen Fernsehapparat verfolge, wenn sie – übrigens noch in Schwarz-weiß – ausgestrahlt werden. Doch solch ein Kajak bekomme ich nicht, weil ich dafür noch zu klein sei, wie mir mein Vater erklärt. Immerhin aber genehmigt man mir mein eigenes Schlauchboot mit Paddeln, auf dem ich selbst bestimmen kann, wohin die Reise in welchem Tempo gehen soll. Und so sind die drei Männer der Holland-Ausflügler nach einer gewissen Zeit mit drei Booten unterwegs: mein Onkel mit seinem Motorboot, mein Vater mit der Segeljolle und ich mit dem Paddelboot. Drei Individualisten. Auf die Frauen, die sich um Sonnencremes und den frischen Kartoffelsalat mit Bockwurst in der Kühltasche kümmern, muss das ziemlich komisch gewirkt haben.

Schließlich, im Sommer 1973, gehen meine Eltern mit Onkel Wilhelm, der Tante und mir auf eine größere Reise. Wir fahren über die Alpen in die Nähe von Poreč nach Kroatien, das damals noch zur kommunistischen Diktatur Jugoslawien gehört. Wir sind in Ferienwohnungen an einem Strand untergebracht. Gehören diese Wohnungen zu dem großen Campingplatz Lanterna, der dort an der Adriatischen Küste bis heute Berühmtheit genießt? Vermutlich. Meinem Vater gefällt dieser Name, der sich von dem Leuchtturm in Trient herleitet und wie Laterne klingt, jedenfalls so gut, dass er sein Segelboot auf den Namen Lanterna taufen wird. Das heißt: das Segelboot meines Vaters ist ein Leuchtturm. Eine eigenwillige Namensgebung, die mich in meinem ontologischen Verständnis überfordert. Ich erkenne: Mein praktisch denkender Vater beherrscht auch die Kunst, einfache Dinge kompliziert zu machen.

Ich genieße es bei diesem Urlaub, allein über die Felsen zu klettern oder auf Schleichpfaden durch die Pinien- und Birkenwälder zu laufen und im glasklaren Meer zu planschen. Wobei letzteres nicht ganz so unbeschwert abläuft – was nicht so sehr an den Seeigeln liegt, aufgrund derer ich Badesandalen tragen muss. Denn: nicht nur die Winnetou-Filme prägen mein kindliches Gemüt, auch der damals weltweit in den Kinos laufende Film „Der Weiße Hai“ von Steven Spielberg übt eine große Wirkung auf mich aus. Zwar habe ich diesen Film nicht im Kino gesehen, aber man spricht über ihn, und ich kenne das Filmplakat, das eine ahnungslose Schwimmerin zeigt, unter der sich die mörderische Bestie auftürmt. Bereit zum Zubeißen. Auf der langen Fahrt nach Jugoslawien hat mir mein Vater erzählt, dass es in der Adria auch Haifische gebe. Wohl nicht so groß wie der Weiße Hai, aber andere, nicht ungefährliche Hai-Arten, wie Blauhaie und Tigerhaie, die gebe es schon. Ich bin schockiert und gleichzeitig fasziniert: Wieso fahren wir dann ausgerechnet in diese gefährliche Gegend? Plasmolen ist doch auch schön. Dort gibt es keine Haie.

Bei einem gemeinsamen Segelturn mit meinem Vater und meinem Onkel nach Poreč wird mir bei der Rückkehr etwas mulmig. Wegen Windflaute und Regen kommen wir nicht gut voran. Wir sind auf offener See. Das Land kaum zu erkennen. Und was wäre, wenn wir nun von einem Hai attackiert werden würden? Vielleicht doch von einem Weißen Hai, der sich verirrt hat? Vor Angst oder weil ich in Poreč zu viel Fanta getrunken habe, muss ich bald dringend auf die Toilette. Doch wir sind mitten auf der See, die immer rauer wird. Mein Vater denkt wie gewohnt pragmatisch. Er zieht das Schwert raus und sagt: „Versuch durch die Ritze zu pinkeln.“ Ich stelle mich also auf, ignoriere die Präsenz der beiden und lasse Wasser ab. Dabei leite ich den Strahl genau durch die Ritze. Von Onkel Wilhelm höre ich, wie er mir mit launiger Stimme zuraunt: „Achte bloß darauf, dass Du nicht meine Socken triffst.“ Ich strenge mich an, und es gelingt. Schließlich schaffen wir es, sicher wieder an Land zu kommen, wo sich die Frauen inzwischen Sorgen über unseren Verbleib gemacht haben. Was meinen Vater und meinen Onkel amüsiert: „Ihr müsst Euch doch keine Sorgen machen, wir sind doch keine Landratten.“

1975 Jahre stirbt Onkel Wilhelm, und meinen Vater nimmt dieser Tod, dieses Sterben sichtlich mit. Lungenkrebs. Nach all den vielen Zigaretten. Als Konsequenz daraus gewöhnt sich mein Vater mithilfe der Akupunktur-Technik das Rauchen ab. Zum Ausgleich isst er Unmengen von Mohrrüben und Äpfeln, nimmt deutlich zu. Meine attraktive Mutter hingegen ist ganz begeistert, dass Wilhelm am Ende auf dem Sterbebett nicht die Hände seiner Frau halten wollte, sondern ihre. „Christels Hände hat er ständig weggestoßen und nach meinen gegriffen“, berichtet sie mir mit leuchtenden Augen.

Sommer 2017

Text: mee ©

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