Lemberg, Bahnhof Europas

Foto: mee

Es war im Sommer 2012: Ich stand im Bahnhof von Lemberg, einem jener Monumente, die die Habsburger zurückließen wie ein vergessenes Möbelstück: schwer, würdevoll, mit Patina. Das Portal hob sich auf in den Himmel wie eine steinerne Krone, die Hallen waren gewölbt, die Treppen glänzten vom Gebrauch ungezählter Schritte. Im Inneren überraschte mich die Sauberkeit, fast ein festliches Flair, als wäre dies weniger ein Durchgangsort als ein Raum der Repräsentation, geschaffen für Reisende, die man beeindrucken wollte.

Draußen lag Hitze über der Stadt, ein Licht, südlich, beinahe mediterran. In der Nacht hörte ich Schüsse, und ein Polizist, der mich in meinem Wagen in der Innenstadt stoppte, verlangte Geld für eine Trunkenheit, die es nicht gab. Ich zahlte nicht, er ließ uns ziehen. „Eine wilde Gegend“, dachte ich, ohne zu ahnen, wie sehr diese Wildheit eines Tages Europas Herz berühren würde.

Heute, dreizehn Jahre später, ist Lemberg wieder ein Ort zwischen Wunden und Hoffnung. Auf den Bahnsteigen, wo ich einst das Kommen und Gehen betrachtete, herrschte in den ersten Kriegsmonaten das Chaos der Flucht. Frauen mit Kindern, Männer mit zu schweren Taschen, Alte mit Blicken, die mehr fragten als sahen. Dieselben Fassaden, die ich in jenem heißen Sommerlicht aufnahm, standen als Kulisse für eine Tragödie, die keinen Bühnenrand kennt.

„Missgünstig, verschlagen und voller Verstellung sind die Tyrannen“, schrieb Marc Aurel einst in seinen Selbstbetrachtungen. Prophetische Worte. Putin ist die fleischgewordene Illustration dieser Zeilen, getrieben von Ressentiment, alt und von Masken durchzogen. Trump wiederum führt die Europäer an der Nase herum, ein Zyniker im Spiel der Macht, der nur zeigt, wie wenig wir gelernt haben.

Und währenddessen gibt es die anderen: Menschen, die ohne große Worte oder Hoffnung auf Talkshow-Einladungen in die Ukraine reisen, um zu helfen. So lobenswert, gerade weil es unauffällig geschieht, ohne Selbstinszenierung.

Wie tapfer die Ukrainer weiterkämpfen, während wir im Westen unsere Urlaubsbilder posten – lachend vor Stränden in Spanien oder in Italien, mit Gläsern in der Hand, als sei die Welt heil. Und dazwischen, fast gönnerhaft hingeworfen: „Slava Ukraini.“ Moralisch obszön, als hätten wir das Grauen an die Ränder verschoben, dorthin, wo wir es nicht mehr sehen müssen.

Text: mee

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