Deutschland-Ticket (II)

Foto: mee

Die Tage werden heller und wärmer. Hin und wieder bin ich begleitet von meinem jüngeren Selbst die Schönhauser Allee entlanggegangen oder die Oranienburger Straße zu den Hackeschen Höfen. Viele Gesichter habe ich gesehen, Häuserfassaden, die sich verändert haben, Läden, die hip und austauschbar wirken. Ich war in U-Bahn-Wagons unterwegs, die mir noch schmutziger schienen, als ich sie ohnehin in Erinnerung hatte.

Doch etwas in mir hat sich verändert. Vielleicht durch gelegentliche Fahrten nach Warschau und aufs Land: ich kann Berlin mit unvoreingenommenem Interesse aufnehmen. Nüchtern, realistisch. Ohne übertriebene Emotionen. Weder positiv noch negativ. Ich sehe die Wirklichkeit wie bei einer langen Kamerafahrt aus vollkommen unterschiedlichen Perspektiven: einen jungen, schwarzen Mann, der einem Obdachlosen, der schläft, ein Sandwich neben den Rucksack schiebt, um dann in der Menge zu verschwinden.

Später in der U2 treten drei gestylte und grell geschminkte dunkelhaarige Mädchen mit „Free Palestine“-Stickern ein und genießen sich selbst mit Selfies und Partylaune.

Am Alexanderplatz, als ich auf dem Bahnsteig auf die U8 warte, spricht mich eine ältere Frau im dunklen, leicht alternativen Look auf das Buch an, das ich in der Hand halte: Dirk Oschmanns „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“. „Das ist nichts Neues“, sagt die Frau mit glänzenden Augen und freundlicher Stimme. Dann erzählt sie von ihrer schlesischen Herkunft. Die U-Bahn kommt. Wir setzen uns nebeneinander. Sie hat einen Stock und trägt ein unförmiges Paket. „Was waren Sie von Beruf?“, frage ich. „Buchhändlerin“, antwortet sie schnell. Ich sage ihr, dass ich beim Halt „Bernauer Straße“ aussteigen muss. Sie rückt näher und flüstert: „Als es 2015/2016 mit der Flüchtlingskrise losging, wusste ich: Du bist im Krieg geboren, Du wirst im Krieg sterben.“

Das Zimmer, in dem ich für die ersten Wochen untergebracht bin, befindet sich in Nähe der Mauergedenkstätte auf der Ostseite. Mein WG-Genosse ist in Moskau aufgewachsen als Sohn eines DDR-Managers, der für die wirtschaftliche Versorgung der Warschauer Pakt Staaten zuständig war und Reisefreiheit besaß. Er trat nicht in die Fußstapfen des Vaters oder auf seine Art, indem er als Matrose unterwegs war. Dann Schauspielschule Ernst Busch, verschiedene Tätigkeiten an Theatern, u.a. Intendant in Sachsen.

Heute schreibt er, dreht Filme oder fotografiert junge Frauen, die sich vor seiner Kamera entblättern. Bei unserer ersten Begegnung erzählte er von einer Nahtoderfahrung im Zusammenhang mit einer Herz-OP: „Wenn man selbst entscheiden könnte, würde man dort bleiben, nicht zurückkommen.“ Nur das Sterben selbst sei wie eine hektisch-sinnlose Filmsequenz a la Tarkowski.

Der erste Film, den er mir in seinem Home-Kino gezeigt hat, wirft die Frage nach Realität und Unmündigkeit auf. Versteift sich der Mensch nicht meist auf eine Interpretation der Wirklichkeit, die ihn dann an diese versklavt?

Manchmal in diesen Tagen kommt mir der Gedanke, dass ich die längste Zeit meines Lebens bereits absolviert habe und der Rest von Alter und Verfall geprägt sein wird. Ein Leben als Ruine? Als wäre ich irgendwann falsch abgebogen und hätte die Zeitvergeudung ignoriert. Doch lagen die Ängste und Irrtümer meines Lebens nicht von Anbeginn zutage? Was nun helfen kann, ist Aufmerksamkeit, Bewusstsein. Deshalb das Festhalten von alltäglichen Beobachtungen in Wort und Bild. Auch wenn sich die Wirklichkeit nicht festhalten lässt. Doch so bleibt man offen für einen Sinn und Bedeutungen. Dadurch gelange ich zu mehr Verständnis, wer ich bin. Hat mich diese Frage nicht stets am meisten umgetrieben? Nicht aus Eitelkeit, sondern aus Unsicherheit.

Mit U. im „Borchardt“, danach allein bei „Dussmann“. Was mich am meisten erstaunt, ist die unveränderte Anspruchshaltung vieler Deutscher. Der Konsum geht weiter, wie bisher, als wäre die Welt noch genauso komfortabel wie vor einigen Jahren. Helmut Newton statt Helga Paris. Auch der eigene Sitz auf dem Planeten wird nicht wirklich hinterfragt. Insofern findet auch keine ernsthafte Aufarbeitung der Kolonialzeit statt – man setzt sie fort unter erleichterten Bedingungen, indem man auf die Reisestrapazen verzichtet. Die Behandlung des Anderen ist genauso paternalistisch wie ehedem. Ein Paradox, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint.

Bücher, die ich gern kaufen würde, gibt es genug, doch erst muss ich lesen, was sich bei mir angesammelt hat. Auf die to read-Liste gehört Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge von totaler Herrschaft“, das im Museum Hamburger Bahnhof von einer kubanisch-jüdischen Performerin gelesen werden sollte. 100 Stunden lang. Ich sah eine lange Warteschlange am Eingang des Museums stehen. Doch die Performance ging nur bis Stunde 88, dann brachten pro-palästinensische Demonstranten die Aktion zum Abbruch. Auf Wunsch der Künstlerin?

Weimarer Dreieck: Dank Tusk und Sikorski erlangt Polen nun die Größe und Bedeutung in Europa, von der Kaczynski geträumt hat.

In der Gemäldegalerie. Eröffnung der Ausstellung „Von Odessa nach Berlin“. Claudia Roth sagt kluge Worte über Kultur und Identität. Sie ist mir sympathisch mit ihrem burschikosen Charisma.

Der Weg durch den Tiergarten. Auch hier ist es so, als würde mein 20 Jahre jüngeres Selbst neben mir laufen. Doch ich bin gesammelter als damals. Ich suche nichts. Reine Ungezwungenheit.

Dies gilt auch für das große Ganze: ob Diskussionen über eine europäische Atombombe oder alte, weiße, amerikanische Präsidenten.

Hier in Berlin darf jeder nach seiner Facon versuchen, selig oder nicht selig zu werden. „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“

Text: mee ©

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