Deutschland-Ticket (V)

Foto: mee

Abendlicher Spaziergang zum Prenzlauer Berg. Vorbei an der kleinen Synagoge an der Brunnenstrasse, auf die im Oktober ein Anschlag verübt wurde. Polizei, Absperrung. Vor uns in der Dunkelheit geht ein orthodoxer Jude mit Hut, der vermutlich gerade die Schabbath-Feier verlassen hat.

Kommt mit dem Älterwerden die Gelassenheit? Oder lässt einfach die Kraft nach, um sich über Kleinigkeiten aufzuregen? Im positiven wie im negativen Sinne?

Vor zwanzig, dreißig Jahren war ich hier häufig unterwegs und stand dabei stets unter Druck, etwas Entscheidendes zu verpassen, was sich vielleicht ein paar Strassen weiter zutragen könnte. Und sei es nur die Aufführung eines neuen Stückes in der „Baracke“. Heute genieße ich die filmreife Eleganz, mit der sich die Straßenbahn an der Zionskirche, in welcher der DDR-Abbruch geistig eingeleitet wurde, vorbeischlängelt. Ich freue mich, dass es das „Pasternak“ noch gibt und auch die Synagoge in der Ryke-Strasse.

Hier spüre ich angesichts des erneuten Absperrungs- und Polizeiaufgebots das Ende meiner neu errungenen Abgeklärtheit: Wie kann es sein, dass in diesen Tagen Protagonisten des Kulturbetriebs ihre gratismutigen Ansichten zum Konflikt im Nahen Osten kundtun, während Juden in Deutschland sich bei der Ausübung ihrer religiösen Praxis verschanzen müssen, als wäre dies die normalste Sache der Welt?

Am nächsten Tag spaziere ich zu meiner neuen Wohnung in Wilmersdorf und bringe eine sogenannte Mesusa am Türrahmen an. Aus Solidarität. Als ich das hebräische Segensgebet spreche, genieße ich den Klang der Worte, die mich an die ersten Schuljahre erinnern, als wir die Geschichten des alten Testaments lasen. Eine jüdische Mitschülerin blieb bald der Klasse fern, weil der gelegentliche Samstagspflichtunterricht der Grundschule nicht im Einklang mit der Religion ihrer Familie stand. Die Christenkinder machten mit der religiösen Aneignung ohne sie weiter.

Zufall oder nicht: am Sonntag steht eine Führung in der Synagoge in der Oranienburger auf dem Programm. Wir sind ein wilder internationaler Haufen mit Indern, Asiaten und lustigen Belgiern. Unser Guide Omer erzählt kundig die Geschichte der Juden in Berlin und von der Teilung der Gemeinde in Reformer und Orthodoxe, die sich in die ganze Welt ausbreitete. Von Fräulein Regina Jonas, der ersten Rabbinerin der Weltgeschichte, die in Auschwitz getötet wurde. Von der Zerstörung der Nazis – anschaulich dokumentiert durch Rauchspuren und einen Stiefelabdruck auf einem heiligen Vorhang – und vom destruktiven Desinteresse der DDR-Politiker, die das, was zerstört war, brach liegen ließen. Auch von der differenzierten Sitzordnung in der Synagoge, vom Unterschlupf im benachbarten katholischen Krankenhaus und dem Mut eines Polizisten.

Er erzählt auch von seiner ungläubigen jüdischen Mutter, die an jedem Schabbath zwei Kerzen anzünde und damit den Beginn des Wochenendes einleite. Ein Bild, das hängen blieb. Vielleicht, weil es so normal und kontemplativ wirkt.

Text: mee ©

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