Deutschland-Ticket (IV)

Foto: mee


Die Ereignisse ziehen an mir vorbei wie ein Karussell: Ausstellungen auf der Museumsinsel oder im Stabi Kulturwerk, Gespräche mit Künstlern, Veranstaltungen wie ein Abend mit Berlins Kultursenator Joe Chialo in religiösen Einrichtungen. Mit oder ohne Polizeischutz.

Ich bin inzwischen auch in Leipzig gewesen, wenn auch nur kurz. Vor fast zehn Jahren war ich zuletzt hier. Die Stadt erinnerte mich mit ihren bürgerlichen Prachtbauten aus der Zeit der Jahrhundertwende an Poznań und Wrocław. Die polnischen Eindrücke und Prägungen sind also immer noch sehr stark am Wirken in mir. Ich sehe mein Herkunftsland mit polnischer Brille.

Wie sollte es auch anders sein nach so vielen Jahren? Bin ich in Warschau der Deutsche mit der polnischen Seele, so fühle ich mich in Deutschland wie der Mann aus dem masowieschen Unterholz, der glaubt, alles ließe sich ein wenig improvisieren. Menschlich mit gedehnten Regeln. Doch das ist falsch. Als ich den Zugbegleiter auf dem Bahnsteig bat, er möge mich in den Zug für die Rückfahrt nach Berlin einsteigen lassen, der abfahrbereit war, pochte er auf meine feste Zugbindung. „Sie müssen eine Stunde warten.“

So kenne ich das Land. Deshalb wollte ich schon früh weg. Schon als Kind. Ein Soldatenfriedhof in Nähe der holländischen Grenze tat das Übrige. Ich hatte keine Lust zu einem Tätervolk zu gehören. In Polen ist diese Last etwas von mir genommen worden.

Manche Deutschen kommen an dem Punkt schnell mit dem Einspruch, dass es keine kollektive Schuld gäbe und auf dem Blatt der Ethik ist das sicher richtig. Allein: die Welt funktioniert ständig mit kollektiven Zuordnungen. Ständig signalisieren Menschen mit Flaggen oder anderen Symbolen, welchem Kollektiv sie sich verbunden fühlen. Nur bei der Schuld soll es nicht so sein? Wunschdenken.

Eines späten Mittags aß ich etwas an einer Supermarktstheke. Der Koch wollte die Ingredienzien des Tagesangebotes loswerden und lud tonnenweise Minibratwürstchen auf meinem Teller ab. „Wenn Sie nicht alle schaffen, können Sie sie mitnehmen.“ Ich schaffte es tatsächlich nicht. Ich verstaute die Restwürstchen in einer kleinen Dose, in welcher vorher Beilagen gewesen waren. Trug das Tablett zu der Sammelstelle der leeren Teller und Tassen. Die Box mit den Würstchen nahm ich mit. Es war kälter geworden draußen, und ich fragte mich, ob wohl der Obdachlose wieder vor dem Alnatura-Supermarkt liegen würde. Schon im Januar lag dort regelmäßig ein Mann. Auf dem Weg zum Supermarkt hatte ich ihn nicht gesehen, doch jetzt stand er dort und breitete gerade seine Decken aus, als würde er auf einem Campingplatz sein Zelt ausspannen. Ich zögerte. War meine Idee nicht frivol, herabwürdigend? Etwas vielleicht schon. Andererseits waren die Würstchen exzellent, und der Koch hatte mir deutlich zuviel serviert.

Es war eine Sekundenentscheidung: „Möchten Sie?“ Ich hielt dem Obdachlosen die Box hin. „Sie schmecken sehr gut.“ „Ja“, sofort griff er nach der Box. „Danke.“ Ich hörte einen Akzent in seiner Stimme. „Czy Pan jest Polakiem?“ „Tak.“ Er stimmte zu, ja. Pole. „Smacznego“, sagte ich. Guten Appetit. Er schaute mich an wie eine himmlische Erscheinung, und so fühlte ich mich auch ein wenig. Dann reichte er mir seine Hand. Ich musterte sie hastig. Sie war schmutzig. Vielleicht entzündet? Ich ergriff sie. Er bedankte sich erneut. Diesmal auf Polnisch.

Es sind diese Momente, die helfen, durch das Karussell hindurchzuschauen. Mit dem Blick für das Wesentliche. Und meinem Sehnsuchtsland treu zu bleiben.

Text: mee ©

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