Es war Sonntag, der Zug hatte keine Verspätung – nur die Heizung im Abteil war ausgefallen. Gratis Tee oder heiße Schokolade? Ich entschied mich für letzteres.
Am Hauptbahnhof Bonn lagen einige Obdachlose wie Leichen in der Unterführung zwischen den Gleisen. Eng aneinander geschmiegt. Die Leiber sporadisch bedeckt. Nur der Uringestank verriet, dass sie noch am Leben waren.
Im Motel One herrschte gute Stimmung. Ein paar Gäste nippten an ihren Cocktails. Meine Generation und jünger. Ich ging auf mein Zimmer.
Am nächsten Tag kam ich am früheren Bundeskanzleramt vorbei. Es wirkte etwas verrostet, doch es brannte Licht in den Büroräumen. Ein Bungalow der Bescheidenheit, der dem Land gut zu Gesicht stand.
Auch wenn eine gigantische Adenauerbüste in Nähe des Zauns platziert ist, ich musste an Helmut Schmidt denken und den Herbst ’77. Acht Jahre war ich damals alt und rechnete ständig damit, von Christian Klar & Co. entführt oder in die Luft gesprengt zu werden.
Auch die Strassennamen erinnern an Politiker, mit deren Namen und Gesichtern ich groß geworden bin. Staatsmänner, die von ihrem Format nach Berlin, Paris oder London gepasst hätten, aber dem kleinen Bonn ein weltbürgerliches Flair verliehen, das sich heute als Melancholie abgelagert hat. Oder bilde ich mir das nur ein?
Es ist lange her, dass ich den Rhein gerochen habe. Ich blicke auf ein Frachtschiff mit holländischer Flagge, das Richtung Siebengebirge schippert. Es hat angefangen zu regnen, doch ich bin nicht allein hier. Jogger, Spaziergänger, Hundebesitzer haben sich auch auf den Weg gemacht zu dem dunklen, mythologischen Fluss, dem ich als Jugendlicher ein paar Kilometer weiter von hier regelmäßig meine Zukunft anvertraute.
„Groß ruht die Einsamkeit aus auf der Weite des Stroms“ (Lea Goldberg).
Im Hofgarten, wo sich zu Beginn der 80er Jahre friedensbewegte Demonstranten aufhielten, roch es diesmal nach Dope und „friedensbewegten Dealern“, wie mir ein Bonner süffisant sagte. Doch mit gefällt die Ruhe hier, auch in der Innenstadt. Buchläden, Restaurants. Distinguierter als in Köln oder Düsseldorf.
Meine Mutter las mir, während die RAF wütete, aus einer Beethoven-Biographie vor. Wollte sie mich damit beruhigen oder mich zu künstlerischen Höchstleistungen animieren? Ich kann sie nicht mehr fragen. Wir besuchten damals in Bonn auch das Beethoven-Haus, doch als ich es nun – fast 50 Jahre später – noch einmal aufsuchen möchte, es wurde inzwischen renoviert, ist es zu spät. Bereits geschlossen. Dafür begrüßt mich ein grüner Beethoven-Zwerg in der Hotellobby, lässig gekleidet mit arroganter Miene, weil man ihn zu einem Touristik-Totem gemacht hat. Bei meiner Ankunft hatte ich ihn glatt übersehen.
Text: mee ©