Deutschland-Ticket (VIII)

Foto: mee

Ein Hoch auf die Frauen: da der Weltfrauentag als arbeitsfreier Feiertag in Berlin begangen wird, gönne ich mir eine Fahrt mit dem Berlin-Warszawa-Express in die polnische Hauptstadt. Dass der Hinweg ein bisschen holprig wird, sind die streikenden Männer schuld. Erst um Mitternacht komme ich am Bahnhof Warszawa-Gdańska an. Glücklich, noch eine Strassenbahn zu erwischen, die mich zum Stadtteil Praga bringt.

Am Samstagabend steht eine Vorführung des Films „März 1968“ im jüdischen Museum Polin an. Der Film des anwesenden Regisseurs Krzysztof Lang handelt von den damaligen Studentenprotesten in Warschau, die offenbar diametral zu den westeuropäischen Unruhen ausgerichtet waren. Demokratie und nationale Kulturpflege statt Marxismus. Was folgte und dem Film seine tragische Note verleiht, war die daran anknüpfende Deportation Tausender polnischer Juden nach Israel. 25 Jahre nach dem Holocaust. Ausgerechnet von dem Bahnhof, an dem ich in der Nacht angekommen war, fuhren die Züge ab. Man kann seine Füße nicht auf geschichtsfreien Boden setzen. Wir gehen immer durch Räume mit historischem Echo.

War mir das nicht auch bei der Anreise-Odyssee mit zweimaligem Umsteigen in Słubice und Rzepin wieder einmal klar geworden? Mit einem Mann aus Belarus, der wie Jim Morrison aussah, und einem jungen Mann aus der Ukraine mit feinem Schnurrbart und blondgefärbter Tolle teilte ich das Abteil. Wir kamen auf den Krieg zu sprechen, an dem der Ukrainer zunächst als Medizinstudent im Lazarett beteiligt war. Inzwischen handelt er von Deutschland aus mit Kaffee. Die 31 000 ukrainischen Armeetoten hielt er für eine starke Untertreibung. Seine Leute seien weiterhin heroisch und kämpferisch, aber auch müde. Man müsse bei Russland immer mit dem Schlimmsten rechnen. Die Ukraine sei erst der Anfang.

Obwohl das Thema so ernst war, lachten wir gelegentlich. „Das muss sein“, sagte der Ukrainer, der seinen Werdegang als ganz normal darstellte. „Sonst hält man es nicht aus.“ Als ich ihm sagte, dass er für sein Alter sehr reif sei, meinte er, er sei eine „alte Seele“.

Wieder in Berlin, freue ich mich, dass die Stadt so viele Menschen aus dem Osten anzieht. So viele Geschichten, die es wert wären, erzählt zu werden. Geschichten, die uns verbinden. Sie werden nicht aufhören.

Text: mee ©

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