MM spielte immer INXS in seinem kleinen Fiat, wenn wir frühmorgens zur Getränkefabrik fuhren, um Flaschen zu sortieren: „Sleep, baby sleep, now that the night is over …“. Mit Arbeitshandschuhen, alten Jeans, Stempelkarte und Dreitagebart waren wir unterwegs. Mit müdem Blick und enormer Lustlosigkeit. Er brauchte das Geld, um sich nach dem Abitur eine Reise nach Amerika zu leisten, ich war mit Südfrankreich und London zufrieden. Für zehn D-Mark die Stunde plagten wir uns ab. Drei Monate lang. Zusammen mit anderen Schulabgängern.
Flaschen sortieren, Kästen aufräumen. Intellektuell gesehen keine schwere Arbeit. Mir kam es zuweilen vor wie eine Form von Meditation. Mein Kopf wurde beim Sortieren leicht und leer. Frei vom abstrakten Schulstoff der zurückliegenden Jahre – mathematischen Formeln, dramaturgischen Konzepten, historischen Daten.
In der Getränkefabrik war das Leben konkret. Zum Anfassen. Es gab grüne, braune und farblose Flaschen, große und kleine Paletten. Da konnte man nicht viel falschmachen. Die Härte lag in der Monotonie: Immer die gleichen Bewegungen (Bücken, Flaschen austauschen, Kästen tragen), aber gut für die Muskulatur.
Für die festangestellten Arbeiter, die mit ihren Stapelfahrzeugen herumfuhren, waren wir die „gelernten Studenten“ oder einfach: „die Schlauen“. Man sprach nicht gern mit uns, aber über uns. Wenn wir uns bei schlechtem Wetter mittags in den Pausenraum setzten, wurde es still. Nur allmählich lockerte sich die Atmosphäre auf. Witze wurden gemacht, Nachrichten aus der „Bild“-Zeitung vorgelesen.
Ich sehe sie noch vor mir: den kleinen pummeligen Dicken mit dem blonden Scheitel und der 60er-Jahre-Brille: „Riesenbaby“, „Mädchenmörder“ nannten wir ihn. Oder den Guerilla-Chef mit der immergleichen Jeans und dem säuerlichen Peter-Handke-Gesicht aus den 70er Jahren – mit Kassengestell und Zuhälterschnurrbart. Nicht zu vergessen: „Steve McQueen“ in der Alkoholiker-Version – mit der versoffenen Nase und der schlechten Laune, der aussah wie 60 und irgendwann im Juni seinen 42. Geburtstag feierte. Doch die Witze und Blödeleien hatten stets etwas Aufgesetztes, Künstliches. Waren MM und ich von der Firmenleitung als Spitzel eingeschleust worden? Durch unseren labilen Arbeitsstatus als Hilfskräfte waren wir paradoxerweise etwas Besseres; keine feste Anstellung zu besitzen, bedeutete ein Mehr an Freiheit, an Möglichkeiten. Zwischen ein paar Wochen „Scheißarbeit“ und zwanzig, dreißig Jahren „Scheißarbeit“ besteht ein Unterschied.
Für MM und mich war es trotzdem hart, und hin und wieder ging einer von uns den dunklen Gang zum Automaten am Eingangstor, wo es die 0,2-Liter-Flaschen für 30 Pfennig gab. Der Gang zum Automaten bot Erholung und Abwechslung. Außer man rauchte zwischendurch eine Zigarette oder trank etwas, aber weil ständig ein Aufseher oder der Firmenbesitzer auftauchen konnte, taten wir das selten. Außerdem verging die Zeit schneller, wenn man arbeitete.
Irgendwann magst Du übrigens keine süßen Erfrischungsgetränke mehr, wenn sie Dir ständig vor der Nase stehen. Irgendwann sehnst Du Dich nur noch nach Wasser. Rein und klar – ohne künstliche Überzuckerung. Die wurde einem auf den rot-weißen LKWs, die täglich auf dem Fabrikgelände rein- und rausfuhren, verheißen.
Bei Regentagen arbeiteten wir in der Fabrik, in der die Maschinen der Zapfanlage, die automatischen Abfüllbehälter zusammen einen dumpfen Lärm erzeugten. Doch meistens ließ man MM und mich die Kästen auf dem Hof sortieren. Dort war bessere Luft und nicht so viel Lärm. Wenn die Sonne schien, konnte man sich sogar bei der Arbeit den Oberkörper bräunen lassen. Ich stellte mir dann vor, wie ich am Strand von Südfrankreich ein attraktives Mädchen kennenlernen würde, wie ich es während der Abiturvorbereitung schon fantasiert hatte.
Worüber redeten MM und ich, wenn wir im Auto saßen oder uns bei schönem Wetter in der Mittagspause eine Zigarette gönnten? Ich vermute, über Frauen, Lehrer und Berufsperspektiven. MM hatte mein Gymnasium schon in der fünften oder sechsten Klasse verlassen und war auf einer anderen Schule besser zurechtgekommen. Den Job in der Getränkefabrik hatte er über den Besitzer bekommen, der ein Nachbar seiner Eltern war. Ein Mann namens S., dessen Familie auch ein Apartment in dem Haus besaß, in dem meine Eltern wohnten. Manchmal wurden dort auf dem Balkon von einem Mann die Blumen gegossen: das war der Hausmeister der Fabrik. Er sah aus wie Peter Glotz, nur nicht so streng. Er arbeitete wie ein Süchtiger, als würde er jede einzelne Flasche kennen und lieben. Er schrie und sang auf seinem Stapelfahrzeug. Manchmal fuhr er im Slalom, drehte wilde Kreise oder sprang zu uns rüber auf eine Palette und erzählte uns in dreißig Sekunden einen schmutzigen Witz. Wenn wir lächelten, war er zufrieden. Dann stürmte er auf seinen Sitz und düste weiter.
Die Arbeit mit MM war angenehm. Das lag wahrscheinlich an seiner zurückhaltenden Art. Er hatte eine Meinung, aber er drängte sie einem nicht auf. Er war ernst und sagte nicht viel, doch wenn er etwas tat oder sagte, war es freundlich. An einem Nachmittag war er auf dem Hof aufgetaucht. Er kam zu mir, begrüßte mich und ließ sich das Bausystem der Paletten erklären – von da an arbeiteten wir zusammen. Jeder für sich. Manchmal halfen wir uns auch, wenn man sah, dass der andere für seine Palette einen Kasten mit grünen Flaschen brauchte und man selbst in der Ecke, in der man sich gerade durcharbeitete, auf eine ganze Ader von grünen Flaschen gestoßen war. Dann wurden die Schätze ausgetauscht und gerecht geteilt.
Am nervigsten war es, die Kästen zu sortieren. Es kam vor, dass man auf eine Palette stieß, bei der alle Flaschen und Farben gemischt waren. Dann musste jede Flasche einzeln umsortiert werden. Keine Scheißarbeit, sondern eine Superscheißarbeit war das.
Interessant war es, die Verfallsdaten zu kontrollieren, obwohl das nicht nötig war. Es gab Flaschen, deren Haltbarkeit bis ins Jahr 1990 oder sogar 1992 reichte. Wenn man eine solche leere Flasche in der Hand hielt, konnte man sich das eigene Leben ausmalen in dieser geheimnisvollen Zukunft. Doch dafür wurde man nicht bezahlt.
Mai, Juni, Juli 1988. Ende Juli war Schluss. Hausmeister Peter Glotz kam zur feierlichen Verabschiedung. Mir drückte er die Hand und sagte: „Du kannst hart arbeiten, aber wenn Du etwas nicht magst, dann sagst Du es. Du tust nichts gegen Deinen Willen. Mal gespannt, was aus Dir wird.“ Mit diesen Worten fühlte ich mich offiziell in die Welt der Arbeit und der Erwachsenen aufgenommen. Als ich das Fabrikgelände verließ, sah ich ihn schon wieder auf seinem Stapelfahrzeug sitzen. Er winkte mir zu und hupte zum Abschied.
Von MM, der nun nach Amerika fliegen würde, hatte ich mich bereits verabschiedet. Ich selbst tingelte bald darauf nach Südfrankreich, wo ich das Mädchen traf, das ich mir imaginiert hatte. So etwas gibt es. Ein seltsamer Moment war es, als ich sie am Strandlokal zu einem Glas Cola einlud. Mein Geld ging quasi dorthin zurück, woher es gekommen war.
Ende September traf ich MM noch einmal, und wir fuhren zusammen nach Düsseldorf zur Bhagwan-Disko, die damals sehr populär war. Sie war sehr hell ausgeleuchtet und an einer breiten Theke, die mir wie die Kommandobrücke eines Raumschiffes erschien, mixten junge Frauen mit tanzenden Bewegungen und fröhlichen Gesichtern Cocktails. Ein Cocktail war im Eintrittspreis inbegriffen. Aus den Lautsprechern schallten die Hits der damaligen Zeit: „Lessons in Love“ von Level 42, „Kiss“ von Prince, „Faith“ von George Michael. Im Auto bei der Rückfahrt aber lief noch einmal INXS: „…and the sun comes like a god into our room, all perfect light and promises gotta hold on you, a new sensation, a new sensation.”
1999/2022
Text: mee ©