Bereit 

Wohnhaus
Foto: mee

Er schaute auf das Thermometer: 36,5. Zum ersten Mal seit zwei Tagen war das Fieber gewichen. Die Hausärztin, welche aufgrund der hohen Zahl seiner Antikörper eine erneute Covid-Erkrankung kategorisch ausgeschlossen hatte, konnte sich bestätigt fühlen. Nur ein grippaler Infekt. Dennoch fühlte er sich weiterhin schwach. So zerknittert wie das Laken seines Bettsofas, das im trüben Licht des Novembernachmittags immer grauer zu werden schien. Dennoch: er spürte Erleichterung. Er war zurück. Auferstanden aus dumpfen Fieberträumen und verborgenen Innenwelten seiner Seele, die sich während der vergangenen 48 Stunden wie ein Kaleidoskop des Irrseins in seinem Kopf gedreht hatten. Er legte das Thermometer zur Seite, blickte aus dem Fenster und sah einige Möwen in Nähe des Hauses einen wilden Tanz aufführen.

In diesem Moment hörte er plötzlich Stimmen auf dem Hausflur. Aufgeregte Stimmen. Ein, zwei Etagen tiefer. Er versuchte, sie zu verstehen, aber es gelang ihm nicht. Jetzt polterte etwas. Dann: noch mehr Stimmen. Sollte er aufstehen und zur Wohnungstür gehen? Er hustete und entschied sich, sitzen zu bleiben. Auf dem Bett, auf dem Laken. Es kam oft vor, dass Nachbarn stritten. Einmal – mitten in der Nacht – hatte der Mann mit dem Killer-Gesicht, der über ihm wohnte, mit seiner Partnerin einen Konflikt über vier Stockwerke ausgetragen. Jedes zweite Wort war „kurwa“ gewesen. Nutte. Das hörte er jetzt nicht. Dafür meinte er, ein Martinshorn zu hören. Langsam stand er auf, ging zum Fenster und blickte herunter auf die Straße. Tatsächlich: ein Polizeiwagen, eine Rettungsambulanz und zwei Feuerwehrfahrzeuge. Es war die Präsenz der beiden letzteren Fahrzeuge, die ihn elektrisierte. Brannte es im Haus? Hatte jemand einen Fehler mit dem Gasherd gemacht? Dieser altertümlichen Hinterlassenschaft der kommunistischen Zeit?

In seinem Kopf ratterten die Gedanken. In schneller Taktzahl. Wie von einem Hammer angetrieben.

Er nahm die Unterlagen eines Projekts, das ihn seit Jahren beschäftigte: „Der Kompass zwischen Himmel und Hölle“. Zog eine Aktentasche mit den wichtigsten persönlichen Dokumenten aus dem Schrank. Im Bad sammelte er die Medikamente, die er am dringendsten brauchte.

Dann zog er sich eine schwarze Jogginghose an, einen Pullover und schließlich die neuen schwarzen Nike-Turnschuhe, die er im Sommer, als die Pandemie zu pausieren schien, gekauft hatte, um sich fit zu halten. So schnell, wie er es sich selbst gar nicht zugetraut hatte, verwandelte er das Bett in ein Sofa. Das Laken und den Pyjama warf er in einen Aufbewahrungskasten.

Dann setzte er sich und wartete. Eine Minute, zwei Minuten … Er erinnerte sich an seine Großmutter, die im Winter 44/45 Hals über Kopf das Haus bei Königsberg hatte verlassen müssen. All die Habe reduziert auf das Wesentliche.

Er schaute auf die Uhr, dann hinaus, wo die Möwen immer noch tanzten, als würde sie das Treiben der Menschen nichts angehen: die Pandemie, der belarussisch-polnische Grenzkonflikt, die steigende Inflation.

Jetzt hörte er auf dem Flur einen merkwürdig metallischen Klang, wie ein Schweißgerät. Die Stimmen waren leiser geworden. Waren sie überhaupt noch zu hören?

Er überlegte. Sollten die Feuerwehrleute noch kommen oder hatte er den Aufruf zur Evakuierung verpasst? Blieb keine Zeit mehr, um die Bewohner des Hauses einzeln zum Verlassen des Gebäudes aufzurufen? Er hustete und schnäuzte die Nase. Er konnte nichts riechen. Auch keinen Rauch.

Schließlich stülpte er sich eine schwarze FFP2-Maske über und öffnete die Wohnungstür. Langsam stieg er die Treppen herunter. Er musste nicht lange gehen. Schon bald sah er Ärzte, Rettungssanitäter und Nachbarn, die um einen Mann herumstanden, der mit freiem Oberkörper und beträchtlichem Bauchumfang ausgestreckt auf dem Boden lag. Der Kopf verdeckt von medizinischem Equipment. Einer der Nachbarn schaute mit bangem Blick zu ihm herauf. Er verharrte in der Bewegung, spürte den Holzgriff des Geländers, der dem Treppenhaus trotz der renovierungsbedürftigen Stufen eine gewisse Dignität verlieh.

Dann kehrte er um zu seiner Wohnung. Schaute auf seine Habe, die bereit stand zur Flucht, zum Weggang. Die Möwen, das konnte er auch sehen, drehten weiter ihre Kreise.

Text: mee ©

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