
Er übergab der Frau an der Rezeption seine Unterlagen, die junge Assistentin führte ihn über die Schwelle zur Radiologie. Er wunderte sich über die zwei bewaffneten Polizisten mit Schutzwesten vor der metallenen Schiebetür, über der das Nuklear-Piktogramm gelb leuchtete. Wer mochte sich dahinter befinden?
Er schaute auf die Uhr. Er hatte Zeit. Alle Aufgaben waren erledigt. Warum also die Atemnot? Die Nervosität? Schon seit Tagen ging das so. Mittags war es so stark, dass er kaum essen konnte. Er musste langsam kauen. Sich Zeit zwischen den Teilen der Mahlzeit nehmen. Das kannte er nicht. Schon sein Vater hatte ihn beim Essen oft angeschnauzt: „Schling‘ doch nicht so! Niemand will Dir was wegnehmen.“ Er hatte es sich nicht abgewöhnt. All die Jahrzehnte. Arbeitskollegen war es auch aufgefallen, obwohl er das Schnellessen inzwischen kultiviert hatte. Wer mit ihm aß, merkte in der Regel nicht, wie schnell er war.
Er drehte sich um. Schaute den Flur herunter. Überwiegend ältere Frauen. Sie trugen hier Masken. Immer noch. Doch es wurde nicht mehr streng kontrolliert. Wie damals. Vor zwei Jahren, als er in genau dieser Klinik auf der Coronastation um sein Leben gekämpft hatte. Mit den Ärzten und mit Wasserflaschen. Nestlé Pure Life.
Möglich, dass er deshalb wieder hier war. Und wegen der stickigen Luft. Mai, Juni. Seit Tagen herrschte Alarmstufe Rot in der Stadt. Allergenalarm, starker Pollenflug.
Er versuchte, sich die alten Damen 40, 50 Jahre jünger vorzustellen und fühlte einen Stich in seinem Herzen. Wie ungerecht das Leben doch war: damals wurden sie begehrt, heute wurden sie von körperlichen Schmerzen und Sorgen umlagert. Er schaute auf die Polizisten, die Schiebetür, die plötzlich zur Seite geschoben wurde. Eine weitere Polizistin trat hervor: groß, blond, mit Schlauchbootlippen. Auch sie mit Schusswaffe und schusssicherer Weste ausgestattet. Dazu trug sie hellblaue Jeans und Pumps mit Keilabsatz. Die ideale Fernseh-Kommissarin.
Er schaute wieder auf die Uhr, dann screente er durch Facebook, wo seine Freunde und er gemeinsam an einer schöneren Wirklichkeit arbeiteten. Heile, erfolgreiche Welt. Die ganze Wahrheit erfuhr man am Telefon oder bei persönlichen Begegnungen. Doch auch die schöne Wirklichkeit war echt. Sie schien ihm nur weit entfernt zu sein von dem Ort, an dem er sich nun befand.
Ein junger, hagerer Polizist zog die Schiebetür zur Seite und bald darauf schob er einen Mann auf einem Rollstuhl sitzend heraus, der ihn an Jewgeni Prigoschin, den Chef der Wagner-Gruppe, erinnerte. Prigoschins Doppelgänger blickte mürrisch, erschöpft. Als würde ihm das Gewicht der Menschen, die er bis hierhin aus dem Weg hatte räumen müssen, zu schwer auf der Seele liegen. Oder auf dem Nacken.
Ein Name wurde aufgerufen: sein Name. Er trat ein. Legte das Sakko mit Schlüsseln und Portemonnaie auf einem Stuhl ab. Die Krankenschwester zeigte auf die ausgefahrene Bahre vor der Röhre. Er befolgte ihre Anweisungen und hatte bald darauf das ungute Gefühl, sich in einem U-Boot zu befinden, in dem bald der Sauerstoff ausgehen würde. Mitten in der Großstadt. Als einziger Insasse und Wrack in einer Person.
Er kannte dieses Gefühl. Aus unzähligen Nächten, wenn er trotz Medikamenten am offenen Fenster saß und sich so allein und verloren vorkam, als wäre er auf dem tiefsten Meeresgrund gelandet. Umgeben vom Tod und einem großen Nichts.
War das nicht auch die Rolle, welche der kleine Planet Erde im Universum spielte? Umgeben von einer schier unendlichen Zahl lebloser Planeten. Inmitten eines Uhrwerks tödlicher Ordnung und Präzision.
Er streckte seine Arme. Atmete. So gut es ging. Die Hände der Krankenschwester berührten seine Hände. In diesem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr er schwitzte. Aus Angst? Weil es so warm war?
Dann wurde er aus der Röhre geleitet. Er stand auf, zog sich das Sakko über, obwohl es viel zu warm war. Er nahm die Schlüssel, das Portemonnaie.
Der Sonnenschein draußen blendete ihn zunächst. Er musste, während er sich zwei Croissants kaufte, an den Regisseur denken, der unweit von hier – im Militärkrankenhaus – gestorben war. Bei einer Bypass-Operation. Er hatte sein Sterbealter erreicht. 54 Jahre. Doch das musste nichts heißen.
So wie auch die Entwarnung der Ärztin am Tag darauf nichts heißen musste, wenn sie ihn auch vorläufig beruhigte. Ihm, der sich schon als Kind intensiv mit dem Tod beschäftigt hatte ohne eine Lösung zu finden, war neu klar geworden, dass er sich, wie jeder andere, stets in Lebensgefahr befand.
Text: mee ©
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