Sie trug einen langen, blonden Zopf, eine Brille und wenn sie mit vollgestopfter Plastiktüte und strenger Miene ins Klassenzimmer trat, hielten manche von uns Schülern den Atem an. Klausurrückgabe bei Frau H. – das bedeutete zumindest in den ersten Jahren auf dem Gymnasium nichts Gutes für die Mehrheit von uns. Ihre Ansprüche waren hoch. Nicht nur, was Grammatik und Bildung in Geschichte und Literatur betraf, sondern erst recht in Ethik und Demokratieverständnis.
Neun Jahre war sie meine Lehrerin. Ungewöhnlich lang. 5. bis 13. Klasse. Von Loriots Strichmännchen bis zu Goethes Faust, vom Mittelalter bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Welches Parteibuch sie hatte, ob sie überhaupt eins besaß? Keine Ahnung. Darüber sprach sie nicht. Sie war keine Propagandistin, keine Agitatorin. Ich verstand sie immer als Elite-Humanistin mit dezenter religiöser Grundierung. Mit familiären Verbindungen zum Kreisauer Kreis. Ihr Geburtstag war zufällig (oder auch nicht zufällig) der 20. Juli 1944.
Sie wurde meine Mentorin, weil sie in mir ein literarisches Talent zu erkennen meinte. Einen guten Schreibstil konstatierte. Analysefähigkeit. Das half mir, stachelte mich an. Ich wollte mehr wissen, mehr lesen. Vielleicht wollte ich ihr auch imponieren. Ich bekam damals zuhause nicht viel Lob zu hören. Die von ihr verliehenen guten Noten retteten mich – wiesen soetwas wie einen Ausweg.
Ungefähr vor 40 Jahren, als wir – wie so oft bei Frau H. – über das „Dritte Reich“ sprachen, wurden Referate gehalten. Eine Mitschülerin, in die ich heimlich ein bißchen verliebt war, sollte wie ich über das Vernichtungslager Treblinka sprechen. Sie war zuerst dran und machte es brillant. Rhetorisch, inhaltlich. Exzellent. Im Prinzip konnte ich, als ich an der Reihe war, nur wenig Neues hinzufügen. So stotterte ich mich unbeholfen durch den Vortrag. Was ich sagte, war in Ordnung. Nichts herausragendes.
Was ich aber nicht vergessen habe, war der fast schon missionarische Eifer, den Frau H. in diesem Zusammenhang mit dem Thema Antisemitismus an den Tag legte. Das war etwas, was völlig verboten und unakzeptabel war. Eine Beleidigung der menschlichen Würde. Eine Todsünde. Das impfte sie uns ein.
Als ich heute von meinem Waldhaus, das 40 Kilometer von Treblinka entfernt ist, mit Frau H. telefonierte, musste ich ihr sagen, wie prägend ihre Worte – das empfinde sicher nicht nur ich so – für uns Schüler waren. Sie gab uns ein ethisches Fundament, einen Gewissensspiegel mit, der im Nachhinein wohl noch wichtiger ist, als der Sinn für schöngeistige Literatur. Was nicht heißen soll, dass jeder in unserem Jahrgang (mich als Journalist eingeschlossen) in den 35 Jahren seit dem Abitur immer alles richtig gemacht hat. Bestimmt nicht. Doch es gibt Grenzen.
So kam es uns beiden, Frau H. und mir, etwas surreal vor, über einen Antisemitismus-Skandal sprechen zu müssen – im Jahr 2023!
Werden Politiker, bevor sie in höchste Staatsämter kommen, wie Hubert Aiwanger oder vor 25 Jahren Joschka Fischer, der Gewalt gegen Polizisten auf dem Kerbholz hatte, nicht durchleuchtet? Hätte Söder seinen Wirtschaftsminister nicht längst suspendieren müssen? Warum stempeln manche Medien den tapferen Lehrer, der für die Demokratie kämpft, zum „Denunzianten“? Konnte die SZ überhaupt anders reagieren? Viele Fragen. Offene oder gar nicht so offene Fragen.
Leider wird es in einer Woche, wenn ich mal wieder am Niederrhein bin, nicht mit einer Begegnung klappen. Frau H. reist – obwohl fast 80 – immer noch gern und viel. Sie bedauerte es, so wie ich.
Doch es klappt nicht mit dem Wiedersehen. Auch in München sind wir zu unterschiedlichen Zeiten.
Als ich nach dem Telefonat ein Foto des Volksfests sah, auf dem sich Aiwanger heute von seinen Anhängern feiern ließ, musste ich seltsamerweise an einen Ausspruch von Frau H. in den Vatikanischen Museen denken bei der Abschlussfahrt 1987. „Denken Sie bei der Betrachtung der Gemälde bitte auch immer an Giodarno Bruno.“
Man muss das ganze Bild sehen. Nicht nur den schönen Schein.
Dankbarkeit für eine faszinierende Lehrerin.
Text: mee ©
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