Die Tochter des Meerkönigs verliebte sich in einen Fischer, worüber ihr Vater so wütend war, dass er sie mit Sturm und Blitzen tötete – auch ihr Schloss wurde vom väterlichen Zorn getroffen und in Tausende von Bernsteinen zersplittert, die im Norden der Kaschubei rund um Danzig und Gdingen verstreut liegen. Auch am Strand der Halbinsel Hel, die an der Danziger Bucht wie E.T.s krummer Finger ins Meer ragt, sind sie zu finden.
Ich suche keinen Bernstein – oder doch?
Ich laufe durch den Sand und erlebe den Übergang von Sommer auf Herbst in 30 Minuten. Länger brauchen die Wolken nicht, um die Sonne zu verdecken. Den Rest besorgt der Meerkönig mit einem eiskalten Sturm.
Meine Familie großmütterlicherseits stammt aus der südlichen Kaschubei, doch zur Sommerfrische fuhren sie ans Meer. An die Bucht. Aus der Stadt hinter dem Horizont, Königsberg, die heutige russische Enklave Kaliningrad, stammt mein Großvater, der in der Ukraine als Wehrmachtssoldat starb.
Am Tag 557 des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine muss ich an ihn denken. Und an die anderen Gespenster meiner Herkunft.
Sind die Geschichten von damals nicht lebendiger denn je? Als würde östlich von meiner polnischen Wahlheimat eine Fortsetzungsgeschichte stattfinden, auf die ich derzeit glücklichweise nur von der Zuschauertribüne aus blicken muss?
Der Yachthafen von Jastarnia verbindet Vergangenheit und Gegenwart: Polnische Kriegsschiffe wurden hier, wo der kaschubische Schiffsbau begann, 1939 von Deutschen zerstört. Kaschubische Flaggen flattern heute in schwarz-gelb an den Schiffen. Auch auf dem Weg zum Zipfel der Insel stößt man überall auf Militäranlagen.
Ich gehe durch den Wald zurück nach Jurata. Unweit meines Hotels, das inmitten der modernen Luxushotels wie eine verwunschene Agentenfestung der Kommunisten aus den 60er Jahren wirkt, hat man der Tochter des Meerkönigs zu Ehren ein Denkmal errichtet. Sie hält einen goldglänzenden Bernstein in der Hand und zwinkert mir zu, als wüsste sie einen Trick, wie man in gefährlichen Zeiten überleben oder zumindest nachhause telefonieren kann.
Text: mee ©
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