Das Netzwerk der Seelen

Foto: mee

Eines Tages in Warschau saß ich im Bus und fuhr in die Altstadt. Ich hatte den Eindruck, dass nicht weit von mir entfernt die Schauspielerin Maja Komorowska sitzt. Eine Legende des polnischen Kinos und Theaters, die mir vor allem aus „Dekalog I“ von Krzysztof Kieślowski vertraut war. Die bekannte zehnteilige TV-Produktion aus den 80er Jahren, welche in einer Hochhaussiedlung spielt. Als ich genauer hinsah, erkannte ich meinen Irrtum: Sie war es nicht.

Später, als ich das, was ich in der Altstadt zu tun hatte, erledigt hatte, sah ich aus der Ferne wie sich mein Bus wieder der Haltestelle näherte. Diesmal in die Gegenrichtung. Ich rannte wie ein Sprinter, um ihn zu erreichen. Es gelang mir. Gerade noch so. Ich sprang hinein, blieb in Nähe des Eingangs stehen und freute mich. Atemlos zwar, doch ich hatte den Bus erreicht. Da bemerkte ich, dass eine ältere Dame, die in Nähe des Eingangs saß, mich freundlich anlächelte. Als würde sie sich mit mir freuen, dass ich den Bus noch erreicht hatte. Ich erkannte die Dame – und diesmal war sie es wirklich: Maja Komorowska. Älter geworden, aber unverkennbar. War das ein Zufall? Ein Echo des „Dekalogs“, in dem Kieślowski die Begegnungen seiner Figuren so kunstvoll durchdekliniert? Der Gedanke beschäftigte mich.

Auch Jahre später an einem Samstagnachmittag im Januar 2022, als ich mit dem Wagen durch Warschau-Praga fuhr, Richtung Dworzec Wileński. Der Verkehr stockte, meine Gedanken nicht. Ich dachte an die Sängerin Magda Umer, ihre melancholischen Lieder. Ein bekannter polnischer Drehbuchautor hatte mir gesagt, dass sie affektiert sei. Ich musste während der langsamen Fahrt auch an die Schauspielerinnen Krystyna Janda und Grażyna Szapołowska denken. Kieślowski hatte Szapołowska erst kurz vor Drehbeginn zum „Dekalog VI“ engagiert. Er empfand sie als zu Divenhaft. War sie das? Ich kenne jemand, der mit ihr im gleichen Haus gewohnt hat und sie schrecklich fand. Arrogant, abgehoben. Ich bewegte mich weiter auf der Ulica Targowa. Stop-and-Go. Auf Höhe der Ulica Kijowska sah ich einen metall-farbigen SUV. Der Fahrzeugführer blinkte, ich ließ ihn einfahren. Ein kurzer Moment der Freundlichkeit. Eine erhobene Hand als Zeichen des Dankes. Dann sah ich ein Gesicht. Die Frau am Steuer war Grażyna Szapołowska.

Wieder Zufall? Oder Fügung? Mir kam es, ähnlich wie die Begegnung im Bus, wie ein Moment in einem Kieślowski-Film vor: eine Geste, die sich mit Bedeutung auflädt, weil sie so alltäglich ist, und doch mehr zu enthalten scheint. Das Netzwerk der Seelen. Kieślowski hatte ein Gespür für solche Momente. Für das, was unsere Leben verbindet. Oder trennt.

Ich erinnere mich auch an einen polnischen Musiker namens Piotr, der in Deutschland lebte. Er machte eine harte Zeit durch. Eine gescheiterte Karriere, eine schwere Krankheit. Als er vom Priester gefragt wurde, was ihm Freude gebe, sagte er: „Die Filme von Krzysztof Kieślowski.“ Das bewegte mich. Als ich davon erfuhr, sagte ich: Wenn das Wetter besser wird, werde ich zu Kieślowskis Grab fahren und um eine gute Regie für Piotr bitten.

Es war ein sonniger Samstag, als das Wetter besser geworden war. Also fuhr ich zum Warschauer Powązki-Friedhof, ging zu dem Grab, das ich 2002 zum ersten Mal besucht habe und ohne dass ich wohl niemals nach Warschau ausgewandert wäre. Liegt dort doch der Mann, der mir mit seinen Filmen eine neue Sicht auf die Welt geschenkt hat oder mir als Lehrer, den ich nie persönlich getroffen habe, vermittelte: Deine Weltsicht, Dein Standpunkt sind wichtig. Schöpfe daraus.

Während ich an seinem Grab stand, näherten sich zwei Frauen. Eine erkannte ich sofort: Maria Kieślowska, die Witwe des Regisseurs. Ich hatte sie vor vielen Jahren einmal in ihrer Wohnung getroffen. Als ich ihr von Piotr erzählte, hörte sie aufmerksam zu und sagte: „Grüßen Sie ihn von mir. Ich hoffe, dass alles gut wird.“ Dann fragte sie mich, da sie sich nicht mehr an mich erinnern konnte, warum ich in Polen sei. Ich zeigte auf das Grab. „On jest winny.“ Er ist schuld. Sie schmunzelte.

Als ich den Friedhof verließ, sah ich die Hochhaus-Siedlung aus den „Dekalog“-Folgen. Ich fragte mich, ob es Zufall ist, dass Kieślowski ausgerechnet in Nähe dieser Bauten beerdigt worden ist, die ihn in Westeuropa bekanntgemacht haben. Ich weiß es nicht, aber manchmal scheint unser Leben wirklich wie nach einem unsichtbaren Drehbuch abzulaufen. Auch dann, wenn wir es nicht erwarten. Nicht daran denken. Doch die zufälligen Momente und Gesten erinnern uns daran.

2022/2025

Text: mee

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