Ein Sonntag in Ravensbrück

Es ist kalt, und es scheint die Sonne, als ich den Zug in Fürstenberg (Havel) verlasse. Ich streife mir Handschuhe über und mache mich zu Fuß auf den Weg zur Mahn- und Gedächtnisstätte Ravensbrück.

Ein Weg von 30 Minuten, der erschreckend idyllisch verläuft. Vorbei an gepflegten Häusern und Gärten. Wegen der gesunden Wald- und Seenlandschaft werden hier und da Ferienzimmer angeboten. Heile deutsche Welt. Schließlich komme ich zu der Gedenkstätte, die an einem See liegt und mindestens genauso erschreckend idyllisch auf mich wirkt wie Fürstenberg.

1939 haben die Nazis hier ein Konzentrationslager errichtet, in dem vor allem Frauen untergebracht waren. 120.000 insgesamt, wie ich auf einer Informationstafel lese. Aus verschiedenen Ländern Europas deportierte man sie. Politische Gefangene, religiös Verfolgte. In 32 Baracken ließ man sie vegetieren. Auf eine Art und Weise, die so menschenunwürdig war, dass es sich kaum beschreiben lässt. Es gab zu wenig Platz, zu wenig Schlaf, es war schmutzig. Dazu wurden die Frauen rundum mit Zwangsarbeit drangsaliert und schikaniert. Von der SS und deren weiblicher Gefolgschaft.

2020 hatte ich die Gelegenheit, eine der polnischen Häftlinge des Lagers, die spätere Ärztin Wanda Półtawska (1921-2023), in ihrer Krakauer Wohnung zu treffen. Ich hatte ihr Buch „Und ich fürchte meine Träume“ (I boję się snów) gelesen, in dem sie die Zeit im Lager aufgearbeitet hat. Ein Buch, das mich zum Weinen gebracht hat. Vor allem die Schilderung der medizinischen Experimente an polnischen Frauen, darunter an Wanda, berührte mich.

In ihrer geräumigen Wohnung mit Blick auf den Marktplatz sprachen wir über die Pandemie, die damals frisch wütete und von Wanda auf die leichte Schulter genommen wurde, ihren langjährigen freundschaftlichen Kontakt zu Karol Wojtyła und seine Philosophie, den christlichen Personalismus. Sie gab mir damals nicht nur Studien- und Lesetipps, sondern hatte auch ein paar persönliche Worte für mich, die mich schockierten, weil hinter ihrem an sich eher schroffen Auftritt eine große Empathie verborgen lag. Sie schien einige meiner inneren Kämpfe zu kennen. Dazu bat sie mich, den Deutschen, besonders den jungen Deutschen, zu sagen, dass sie sich „Schätze im Himmel“ sammeln sollten, die „nicht von Gestapo oder SS“ gestohlen werden können.

In der Ausstellung der Gedenkstätte, die immer noch eine leicht sozialistisch gefärbte Handschrift trägt, stieß ich nur einmal auf Wanda – in einem Raum, der für die polnischen Frauen zur Erinnerung eingerichtet worden ist. Dort ist Wanda mit ihrem Mädchennamen Wojtasik verzeichnet. Was ein bißchen wie Wojtyła klingt.

Sie hatten sich bei einer Beichte kennengelernt, bei der Wanda zum ersten Mal Ruhe fand, weil der spätere Papst ihr im Unterschied zu anderen Priestern keine einfache theologische Erklärung für ihr Leiden und ihre Erfahrung lieferte. Als an Immanuel Kant, Max Scheler und modernen Theologen des 20. Jahrhunderts geschulter Philosoph ließ er sie mit all ihren Fragen und Erschütterungen einfach sein. Er riet ihr lediglich, regelmäßig zur Messe zu gehen. Ansonsten war er für die schwer traumatisierte Frau als Seelsorger immer da, und sie für ihn – als psychologische Expertin, wovon seine Bücher wie „Person und Tat“ sicherlich profitiert haben. In den 1960er Jahren, als Wanda bereits Mutter und Ärztin geworden war, aber an Krebs erkrankte, wandte Wojtyła sich hilfesuchend an den italienischen Mystiker Pater Pio. Die bereits geplante OP konnte bald darauf wieder abgesagt werden. Der Krebs war verschwunden.

Als ich Anfang 2021 trotz Einhaltung der Schutzmaßnahmen an Covid erkrankte und dank meiner früheren Ehefrau von der Ambulanz abgeholt wurde und auf eine Warschauer Coronastation kam, erinnerte ich mich an diese Episode in Wandas Leben. Die junge Ärztin im Warschau Krankenhaus war bei der Freitagsvisite mit meinem Zustand nicht zufrieden. 80 Prozent der Lunge waren befallen, am kommenden Montag sollte ich intubiert werden. Mir blieb nichts anderes übrig, als viel Wasser zu trinken und zu beten. Tatsächlich war das mich wochenlang quälende hohe Fieber nach zwei Tagen endlich verschwunden. Am späten Sonntagabend, den ich nie vergessen werde, geschah dann etwas, das ich bis heute nicht rational erklären kann. Draußen war es dunkel, sehr kalt und es schneite. Ich streckte mich in meinem hellblauen Krankenhaus Pyjama im engen Bett. Weiterhin angeschlossen an ein Beatmungsgerät und den Tropf. Plötzlich vernahm ich eine innere Stimme, die mir sagte: „Nun zeige ich Dir, was ich mit meinen Alchemisten mache.“ Dann schien sich mein Bett in eine Art Swimmingpool zu verwandeln. Obwohl ich kein Fieber mehr hatte. Gesprächsfetzen aus der Begegnung mit Wanda fielen mir ein – und natürlich musste ich an Pater Pio und Karol Wojtyła denken. Sah sie aber nicht. Ich hatte keine Vision, war bei vollem Bewusstsein, hatte aber den Eindruck, mich in einer spirituellen Waschanlage zu befinden. Die ganze Maschinerie mit Schöpfer und Geschöpfen war transparent – und ich als winziges Teilchen darin eingewoben. Als der Waschgang vorbei war, stand ich vorsichtig auf und zog meinen völlig durchnäßten Pyjama aus. Auch die Bettwäsche wechselte ich. Am nächsten Morgen prüften die Ärzte meine Körperwerte und sagten, dass ich es geschafft habe, man mich aber noch etwas zur Beobachtung auf der Station behalten wolle.

Ein paar Tage nach meinem Besuch bei Wanda im Jahr 2020 hatten wir telefoniert. Ich hatte ihr einen Text geschickt, an den sie nur zwei Korrekturwünsche herantrug. Außerdem bat sie um meine Anschrift, damit sie mir etwas zuschicken könne. DVDs, Bücher und Texte. Schließlich beendete sie das Gespräch mit den Worten: „Wenn Sie das nächstemal in Krakau sind – Sie wissen, wo ich wohne.“

Nachdem ich nun in Ravensbrück war, habe ich das Gefühl, wieder bei Wanda gewesen zu sein. Anders als vor fünf Jahren in ihrer Krakauer Wohnung, anders als vor vier Jahren im Warschauer Krankenhaus, doch nicht weniger nah.

Text: mee

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