Es war nicht die Kathedrale Notre-Dame, die mich interessierte, sondern die Körpersprache der Politiker. Die Art und Weise wie der französische Präsident seine Amtskollegen aus Polen, Deutschland und Amerika begrüßte, wie die Gäste sich bewegten und auf welche Sitze man sie platzierte. Ein großes Theater, das viel über unsere Zeit aussagt, wenn man die Codes und Zeichen zu lesen versteht – psychologisch.
War es Zufall, dass der deutsche Präsident direkt hinter Macron und Trump platziert wurde und damit in der zweiten Reihe sitzen musste, nachdem er zuerst, wie es sich für einen Präsidenten wie Steinmeier gehört, die erste Reihe angesteuert hatte?
Schon einen Tag später war Notre-Dame kein Thema mehr. Der Sturz des Assad-Regimes beherrschte die Medien. Wobei ich mich wunderte, wie euphorisch die Stimmung in Deutschland war. Natürlich ist Assad ein menschliches Monster, aber hat uns der sogenannte Arabische Frühling nicht gelehrt, wie schwierig Regimewechsel sein können? Deshalb fand ich es auch ein bißchen unanständig, wie schnell Stimmen laut wurden, die forderten, syrische Flüchtlinge könnten jetzt quasi unverzüglich abgeschoben werden.
Warten wir erstmal ab. Es scheint jedenfalls eine konzertante und keinesfalls spontane Aktion gewesen zu sein, die den Regimewechsel bewirkte, und man darf gespannt sein, ob das, was in Syrien geschah, nicht auch in engem Zusammenhang steht mit dem, was bald schon der Ukraine droht. Im Januar, wenn Donald Trump zum zweiten Mal das Amt des US-Präsidenten antritt, wissen wir mehr. Ich fürchte, die Zukunft der freien Ukraine wird stark von den Europäern abhängen, die zum Jahresausklang alles andere als geschlossen und standfest wirken. Frankreich und Deutschland stehen, wie jeder weiß, derzeit parlamentarisch auf wackeligen Füßen.
Am solidesten wirken auf mich Polen und die baltischen Staaten. Vor ein paar Tagen hatte ich die Gelegenheit, von Warschau aus einen kurzen Abstecher nach Vilnius machen zu können. Die Suwałki-Lücke zu passieren, ist mittlerweile ein Erlebnis, das mit genügend Phantasie die Nerven kitzelt. Im Tor der Morgenröte nahm ich spontan an einer heiligen Messe teil und musste daran denken, dass die hier verehrte, von einem Holländer gemalte Gottesmutter schon einmal bewiesen hat, dass selbst russische Angreifer beim Abschirmdienst der Madonna an ihre Grenzen kommen können. Alfred Döblin beschrieb sie so: „Über einem großen Halbmond, der wie ein gebogenes mächtiges Tierhorn ist, erscheint sie. Von der Brust an ist sie sichtbar. Sie hat weite reich ornamentale priesterliche Kleider an. Den gekrönten Kopf hält sie rechts geneigt. Die beiden Hände liegen gekreuzt über der Brust. Der schmale Hals taucht aus herrlichen sehr farbigen Gewändern und Überwürfen auf. Dann kommt ein schmales hohes Gesicht, die Augen nur mit einem Spalt offen, die Lippen geschlossen. Spitze goldene Strahlen umgeben den ganzen Kopf. Sie betet, oder ist entrückt, oder hört wehmütig-milde, oder ist in ihr Leid versunken, sucht sich daraus zu erheben: ich kann schwer den Ausdruck fassen.“
Bei meinem Kurz-Besuch in der Stadt hatte ich auch die Gelegenheit, mit dem neuen Nuntius für die baltischen Staaten, Georg Gänswein, zu sprechen. Der 68-Jährige hat sich schnell in die neue Aufgabe eingearbeitet.
So wie in Polen spürt man auch in Litauen unter der Bevölkerung, dass die Ukraine nicht fallen darf; deshalb finde ich es gut, dass der polnische Ministerpräsident Donald Tusk nicht nur die enge Abstimmung mit den skandinavischen und baltischen Staaten (NB8) sucht, sondern auch die Nähe zu den angeschlagenen Westeuropäern, wie Emmanuel Macron und dem möglichen nächsten Bundeskanzler Friedrich Merz, fortsetzt.
Ich würde mir wünschen, dass in den deutschen Medien die internationale Sichtweise auf den Krieg eine viel stärkere Rolle spielt und man linken und rechten Putinisten nicht soviel öffentlichen Raum gewährt. Die Bundesrepublik gerät dadurch in einen internen Schlingerkurs, der auch das internationale Ansehen des Landes beschädigt. An diesem Imageverlust – das muss man fairerweise sagen – hat aber auch die ziemlich desaströse Energie- und Wirtschaftspolitik der vergangenen drei Jahre ihren Anteil.
Mit gemischten Gefühlen ging ich Ende der Woche ins Kanzleramt, wo Claudia Roth Journalisten zu einem Hintergrundgespräch geladen hatte. Es ist auch von innen ein kalter, überdimensionaler Bau, für den Helmut Kohl eigentlich posthum bestraft gehört. Ist das Kanzleramt in Berlin doch sein gigantomanisches Vermächtnis.
Mehr Bescheidenheit und Verbindlichkeit wagen, möchte man Deutschland in der Spielzeit 2024/2025 zurufen. Die Welt hat sich gewandelt. Kein Land kann nur moralische Maximalforderungen an andere Länder stellen und sich selbst raushalten, wenn es ihm zu schmutzig wird. Die mindestens 48.000 getöteten ukrainischen Soldaten sind auch für die Freiheit der Bundesrepublik gestorben.
Putin wird seinen Expansionszug nicht beenden, wenn man ihm die Eroberung von Gebieten in der Ukraine zugesteht. Putinisten sind deshalb keine Pazifisten, sondern Kriegstreiber – und sei es aus Naivität.
Autor: mee