Bin ich deshalb wieder in Deutschland? Diese Woche fühlte sich an wie die andere Seite der 9. November 1989-Medaille. Alles scheint sich aufzulösen, doch ohne Begeisterung. Der Bundeskanzler feuert seinen Finanzminister und will dem Parlament erst im Januar die Misstrauensfrage stellen – angeblich aus Mangel an Papier. Verkehrsminister Volker Wissing, den ein seltsamer Nimbus umgibt, als könnte er jederzeit in die Rolle eines Soldaten schlüpfen, verlässt die FDP und wird dafür mit einem zusätzlichen Ministerium belohnt.
Ich höre die Rede des Bundespräsidenten zur Friedlichen Revolution im Schloss Bellevue und fasse das Wesentliche schriftlich zusammen. Danach ist die Welt nicht mehr dieselbe, was nicht an meinem Text liegt, sondern an der Rede, die nach ihm der Schriftsteller Marko Martin hält. Mit frontaler Höflichkeit streckt der Autor Steinmeier und anderen Genossen den Spiegel ihrer verfehlten Russland-Politik entgegen. Steinmeier ist am Ende des Vortrags nicht bereit zu klatschen. Wutentbrannt soll er nachher auf Martin zugegangen sein, um ihm Diffamierung zu unterstellen. Eine merkwürdige Diskrepanz zu Steinmeiers offiziellem rhetorischem Freiheitsethos. Wenn auch nicht wirklich überraschend für erfahrene politische Beobachter in der Hauptstadt.
Am Abend treffe ich mich mit einem Freund, der rechter Verschwörungstheorien völlig unverdächtig ist. Er hat die DDR als unangepasster Künstler miterlebt. In der Strassenbahn Richtung Zionskirchplatz weiht er mich in seine neuesten Gedanken ein. „Es geht darum, Trump medial in den Hintergrund zu drücken. Jetzt reden alle nur noch von Olaf.“ Ich bin skeptisch, ob diese Logik greift. Dann sagt der Freund etwas, das mich nachdenklicher macht: „Heute wäre ein Widerstand wie damals unmöglich. Jeder ist als Einzelner bei Social Media und empört sich in seiner Blase. Daraus folgt aber nichts.“ Keiner gehe auf die Strasse. Es gibt sicherlich Ausnahmen, trotzdem finde ich die Analyse bedenkenswert.
Als wir das Lokal, in dem wir tschechisches Bier getrunken haben, verlassen, zeigt der Freund auf eine schlichte Tür neben einer Cocktail-Bar mit Holz-Pferdchen. „Hier ging es zur Umwelt-Bibliothek.“
Am Freitag verfolge ich eine Debatte im Bundestag. Ein letzter Antrag der Jetzt-nicht-mehr-Koalition. Die zentrale Rolle der Ostdeutschen bei der Friedlichen Revolution soll stärker im öffentlichen Leben bedacht werden. Ein nobler Gedanke, der aber nichts kostet. Die Renten vieler SED-Opfer zum Beispiel verändern sich dadurch nicht. Was mich freut, ist, dass bei der Debatte auch das Engagement der Osteuropäer vor 35 Jahren erwähnt wird. Ganz so, wie es auch Marko Martin zu Beginn seiner Rede gemacht hat, als er die polnischen Freiheits-Veteranen begrüßte und ihnen auf Polnisch dankte.
Später landet der Text der Videobotschaft des Kanzlers, der sich in Budapest aufhält, auf meinem Schreibtisch. Auch er würdigt den Mut der Osteuropäer. Solidarność, paneuropäisches Picknick …
Ich habe für Samstag eine Zugfahrt nach Warschau gebucht. Also werde ich, anders als vor 35 Jahren, nicht in Berlin sein. Ich erschrecke über die Zahl der Jahre, die seit dem 9. November 1989 vergangen sind, fühle mich alt. Damals habe ich die entscheidende Richtungswende vollzogen. Anstatt auf der Mauer stehend in die westlichen Kameras zu winken, habe ich mich gen Osten gedreht. Dem Brandenburger Tor zugewandt.
Ich wusste damals nicht, dass ich eines Tages noch weiter gehen würde. Dass Osteuropa zu meiner Heimat würde werden können. Doch Berlin war das Sprungbrett, und die Stadt ist auch heute noch ein wichtiger Seismograph, der die sozialen und kulturellen Risse anzeigt, die behandelt werden müssen, wenn Europa im Kessel der autoritären Regime nicht verbrennen will.
Die Luft ist kühl und klar, die Samstagssonne spiegelt sich im Glanz der bunten Herbstblätter. Ich muss, als ich mich auf den Weg zum Hauptbahnhof mache, an den „Kanzler-Werbespot“ von Robert Habeck denken, der einer seltsamen Woche eine weitere kuriose Note verliehen hat. Ist die Theorie des Freundes doch richtig: Trump durch obskure Aktionen medial verdrängen? Sicher ist nur: Marko Martins Rede stellt alle weiteren offiziellen Ansprachen und Rituale dieses Herbstes in Erinnerung an den 9. November 1989 in den Schatten. Mut, Freiheit, Ehrlichkeit – am Ende zählen diese drei.
Text: mee ©