Die Tage werden kürzer und die Termine drängen sich. Vor einer Woche war ich in Chemnitz, wo das Programm der Kulturhauptstadt 2025 in einer modernisierten Fabrik vorgestellt wurde. Tanz, laute Beats, eine ganze Fülle von Veranstaltungen.
Als kleine Gruppe von Journalisten fuhren wir mit einer archaischen DDR-Strassenbahn zu einem zukünftigen Zentrum für Kreativschaffende. Wir fanden noch viele Baustellen vor. Es gab kleine Karl Marx Büsten als 3-D-Druck. Danach weiter zu einem Garagenhof. Garagen spielten zu DDR-Zeiten eine große Rolle in der Stadt, sie dienten als Nahtstellen für das soziale Miteinander. Nicht nur als Standplätze für Autos.
Ein paar Tage später spricht Michel Friedman mit dem „Antisemitismusbeauftragten“ der Regierung an der Freien Universität über den Anstieg des Judenhasses in der Gesellschaft. Ich wundere mich über die laxen Kontrollen – trotz Polizeipräsenz. Es sind wenig Studenten im Saal. Leider. Gerade hier täte es not. Friedman wirkt müde und erschöpft, als hätte er nach dem 7. Oktober 2023 die Hoffnung aufgegeben.
Sowohl in Chemnitz wie auch an der FU spreche ich kurz mit früheren Kommilitonen, die dort jeweils beruflich involviert sind. Tempus fugit.
Daran denke ich auch bei einer Regierungs-PK bei der Bundespressekonferenz. Viele der Sprecher der Ministerien sind jung, jünger als ich. Ich brauche etwas Zeit, um mich daran zu gewöhnen. Dabei ist es nichts Ungewöhnliches. Längst hat die jüngere Generation in Politik, Wissenschaft und Kultur das Ruder übernommen. Was weitergeht, sind die gleichen Rituale der Abwehr: „Wir spekulieren nicht“, „Sie können sicher sein, dass dies intern behandelt wird“, etc. Es wird das Gefühl von Kontrolle und Sicherheit vermittelt in einer Welt, in der es keine Sicherheiten mehr zu geben scheint. Es gab sie nie. Doch nun werden die Risse zu Kratern. Nicht nur in Deutschland. Die ganze Welt scheint von einem Rache-Sog erfasst worden zu sein. Ein Getümmel der falschen Propheten und verderblichen Allianzen.
Ich stelle fest, dass meine Artikel mittlerweile in verschiedenen Regionalzeitungen des Landes erscheinen. In der normalen Presse also – ohne Konfessionsgitter. Vor allem Ausstellungsbesprechungen laufen gut. Auch der Bericht zur DHM-Ausstellung „Was ist Aufklärung?“ ist übernommen worden. Das freut mich besonders. Aufklärer und Kirchenleute sitzen heute nebeneinander auf derselben Anklagebank.
Im Wedding treffe ich den katholischen Erzbischof, der sich freut, dass bald seine Kathedrale wiedereröffnet wird. Sechs Jahre war sie wegen Umbau geschlossen. Er ist ein freundlicher Mensch, der gern lacht. Rheinländer, Fußballfan, nicht frei von Ehrgeiz. Zum Abschied wünscht er mir einen „Gesegneten Allerseelentag“. Woher weiß er, dass von allen christlichen Feiertagen Allerseelen mein Lieblingstag ist? Schon seit Kindertagen, wenn die Nebel des Niederrheins Gräber und Wiesen umfingen und die flackernden, roten Grablichter auf eine andere Welt verwiesen. Ernst und still. Weihnachten und Ostern waren mir mit all der implizierten Lebens- und Wunder-Euphorie stets suspekt.
In düsteren Sphären hält sich auch Ben Becker mit seinem neuen Soloprogramm „Todesduell“ nach John Donne auf. Viel Applaus zur Premiere, Standing Ovations. Ein paar Reihen vor mir erkenne ich Jürgen Prochnow im Publikum. Wieder denke ich an die dahineilende Zeit: „Das Boot“, „Der Wüstenplanet“. Jahrzehnte, vergangen wie ein Windhauch. Die Helden meiner Jugend sind tot oder alte Männer. Wieviel Sand befindet sich noch in der Sanduhr meines Lebens?
Ich bin mit Mitte 50 wählerisch bei den Büchern, die ich lese, weil ich Zeit und Kraft für mein eigenes Schreiben brauche. Ich bereue nicht, in den vergangenen Wochen „Kairos“ von Jenny Erpenbeck gelesen zu haben und „Was vom Glauben bleibt“ vom Theaterfachmann Bernd Stegemann, der mit seinen religiösen Wurzeln ringt.
In der U-Bahn zähle ich die Tage bis zur nächsten Fahrt nach Warschau, wo alles Gegenwart für mich ist. Noch immer. Ich freue mich, dass ich am Abend des 9. November nicht in Berlin sein werde. Damals vor 35 Jahren stand ich auf der Mauer und blickte durch das Brandenburger Tor gen Osten. In diesem Moment wurde der Kompass meines Lebens neu eingestellt.
Ich habe Lust auf Zukunft. Veränderungen, Transformation. Lust, Neues zu entdecken. Weiterzugehen. Vorwärts.
Text: mee ©