Q XVIII.

Foto: mee

5. Juli 2020

Ich packe die Koffer ins Auto und fahre los. Richtung Gdynia. Eine 4-stündige Fahrt u.a. durch Masuren. Früher dauerte es wesentlich länger, doch das Autobahnnetz ist ausgebaut worden. Nur zu Beginn trödelt man etwas auf Landstraßen daher. Ist man erstmal auf der Schnellstraße, nähert man sich dem Meer mit Hochgeschwindigkeit. Die Sehnsucht tut ein Übriges. Ich habe das Meer immer geliebt. Schon als Kind. Auch jetzt ist das erste, was ich mache, als ich angekommen bin, aussteigen und zu Fuß zum Meer gehen. Ein kurzer Weg durch die Stadt, die ich gut kenne und die mir im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen ist. Obwohl sie doch im Vergleich zu Danzig oder Sopot regelrecht hässlich ist. Wie ein Schachbrett, auf dem nur Türme stehen. Das stört mich aber nicht. Ich laufe vorbei an Touristen in Sommerkleidung und sehe endlich das Meer. Mag der Himmel auch eher grau statt blau sein. Das stört mich nicht. Die Weite, der Horizont, das ist das Entscheidende. Unendlichkeit. Freiheit.

Es ist so wie in der Kindheit. Nun hat man alles vor sich, wie ein riesiges Geschenkpaket. Man darf nur nicht zu lange darüber nachdenken, sonst könnte man ins Grübeln kommen. Nach dem Essen und einem Gespräch mit dem Jesuitenpater, der mich eingeladen hat, schaue ich aus meinem Fenster herunter auf den Hafen, und ich sehe die Kräne, die mich immer an meine Geburtsstadt Duisburg erinnern, den dortigen Binnenhafen. Vielleicht bin ich deshalb so gern in Gdynia. Es ist eine Art Duisburg am Meer.

Dazu kommt die Familiengeschichte mütterlicherseits. Ein Onkel, der vergangenes Jahr starb, hat es mir noch erzählt, dass die Familie oft Ausflüge hierhin gemacht hat, von Lauenburg (heute Lębork) aus. Heraus aus den kaschubischen Wäldern. Doch das kaschubische Kulturforum in Gdynia werde ich auch bei diesem Besuch nicht betreten können, es ist während der Urlaubszeit wieder mal geschlossen.

Dass das hochgelegene Exerzitienhaus der Jesuiten nicht geschlossen ist, ist eigentlich ein kleines Wunder. Der Flügel, wo ich untergebracht bin, ist halbwegs renoviert, an anderen Teilen wartet noch viel Arbeit. Corona hat die Blaupläne durcheinandergebracht. Doch man sieht: es wird großartig aussehen. Der raue sozialistische Stein der 80er Jahre wird einem schnittigen Design weichen.

Ich schaue zum Himmel. Während des Gesprächs mit dem Pater hat es heftig geregnet, nun erkenne ich beim erneuten Runtergehen zur Stadt einen intensiven Regenbogen. „Gerufen oder ungerufen – Gott wird da sein“, geht es mir durch den Kopf. Jetzt bemerke ich auch, dass die Schalter an den Ampeln alle beklebt sind. Niemand soll sie berühren. Im Laden, in dem ich Getränke kaufe, setze ich meine Maske auf. Im Exerzitienhaus gibt es am Eingang einen Kasten mit Desinfektionsmitteln.

Montag, 6. Juli

Ich schlafe fast bis 8 Uhr. Dann koche ich mir mit der Maschine, die ich mitgenommen habe, die erste Tasse Kaffee. Ich fühle mich gut. Der Blick auf das Meer motiviert mich. Der Lärm der Bauarbeiter ist nicht so schlimm. Auf in die „Arena“. Um 13 Uhr gibt es das Mittagessen. Danach gehe ich zur Ausflugsplattform, wo imposante Schiffe zu besichtigen sind. Ich erinnere mich an frühere Besuche im „Aquarium“, an die Menschen, die damals dabei gewesen sind. Wie etwa mein Vater, der das Meer auch geliebt hat. Sieben Jahre sind seit seinem Tod vergangen. Doch ich möchte nicht nostalgisch sein. Ich möchte die Gegenwart erleben. Ich kaufe mir zur Feier des Urlaubs ein Eis und staune, wie viele junge Leute, die hier unterwegs sind, ihre Beine und Arme tätowiert haben. Ist der Mensch nicht Kunstwerk genug, als dass er sich so verzieren müsste?

Ich laufe vorbei an dem Platz, an dem Johannes Paul II. vor 33 Jahren eine Predigt gehalten hat. Sowohl ein großflächiges Plakat wie auch eine Statue erinnert daran. 1987 – wie weit entfernt diese Zeit doch ist und gleichzeitig sehr nah, wie etwas, das zu einem gehört und welches man nie ganz loswird. Aber hatte ich mir nicht ein Nostalgie-Verbot verordnet?

In den Restaurants, an denen ich vorbeilaufe, sitzen einige Leute; auch vor meinem Lieblingslokal „poprostu“ ist es voll. Eigentlich wirkt es mehr wie eine modernisierte Milchbar, wie man sie in Polen zuhauf findet. Abends jogge ich noch einmal zum Meer. Dabei spielt sich auf dem Weg entlang des Strands ein Drama ab: Ein Mann, Mitte dreißig, überholt mich. Zunächst wehre ich mich, beiße die Zähne zusammen, und gebe, was ich körperlich geben kann, doch nach einigen Metern merke ich, dass ich ihn ziehen lassen muss. Ich kann nicht mithalten. Liegt es daran, dass ich aus dem Training bin? Leider nein. Seit Wochen laufe ich regelmäßig. Ich habe nur eine Erklärung: mit Anfang 50 hat man weniger physische Kraft als mit Mitte 30. Eigentlich keine große Neuigkeit, aber dies so deutlich zu erfahren, tut doch etwas weh.

(Auszug aus dem unveröffentlichten Manuskript „Q -Berichte aus der Quarantäne“)

© mee

Mit Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 in Europa entschloss ich mich aufgrund einer Vorerkrankung, Warschau zu verlassen und in meinem Haus im Wald nordöstlich der polnischen Hauptstadt zu leben. Obwohl die journalistische Arbeit normal weiterging, hatte ich das Bedürfnis, tiefer über meine Zeit in Polen und unvollendete Projekte zu reflektieren. Ich begann, meine Gedanken und Beobachtungen aufzuschreiben. So entstand das Tagebuch „Q – Berichte aus der Quarantäne 2020/2021“. Im Sommer 2020 verbrachte ich ein paar Tage am Meer in Gdynia.

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