
Der Dozent ist ein hagerer Mann, Ende 30. Unsicher und leicht stotternd steht er vor den Studenten der Humboldt-Universität und denen, die von Westen kommend, auch mal reinschauen wollen. Was hier stattfindet, in den Räumen der einstigen DDR-Kader-Universität, ist eine anheimelnd wirkende theaterwissenschaftliche Vorlesung über die Antike.
Holztische, Strickgardinen, PVC-Boden.
Der Dozent wirkt müde. Die dunklen Ringe unter den Augen – Spuren der Nachtarbeit.
Dabei waren es vermutlich nicht Medea oder Antigone, welche ihm den Schlaf geraubt haben. Wie wird es nach dem 3. Oktober 1990 weitergehen für ihn? Wird man ihn abwickeln? Wird er den Reformstrukturen zum Opfer fallen?
Der Dozent, der nach dem Geschichtsstudium promoviert hat, danach in Moskau ein Zusatzstudium absolvierte, schaut etwas verloren wirkend in die Runde der Studenten, manchmal nickt er zögerlich. Er gehört mit seiner Vita zu denen, die sich über das alte System am wenigsten beklagen können.
Irgendwann einmal wird man durch gute Leistungen auf ihn aufmerksam geworden sein. Irgendwann einmal wird er gefühlt haben, dass er ankommt, dass die Partei seinen Einsatz belohnt. Irgendwann einmal werden sich seine Zweifel am System, so er welche hatte, verwischt haben, die Freude über eine mögliche wissenschaftliche Karriere innere Einwände in den Schatten gestellt haben. Nun – mit dem Abgesang des Systems – steht er plötzlich hilflos da. Wie jemand, der den Boden unter den Füssen verloren hat. Aus dem Nest gefallen ist, weil es das Nest nicht mehr gibt.
Der Dozent, der nun vom „Mensch als Maß“ und der griechischen Aufklärung in einem Jahrhundert „vor unserer Zeitrechnung“ spricht, weiß dies. Die Zeitrechnung hat sich wieder geändert oder ist gerade dabei, sich zu ändern. Seine Vorzeigekarriere könnte sich in einen Strick verwandeln. Die ideologische Welt steht auf dem Kopf.
Auch für die Mehrheit der Studenten hier, die eigentlich das große Los gezogen hatten. Einige spielen nun, wenn es ernst gemeint ist, mit dem Gedanken, Wirtschaftswissenschaften zu studieren, andere singen sich Mut zu mit kernigen PDS-Parolen. Stefan, ein rothaariger Student aus Leipzig, der zum Studentensprecher gewählt wurde, hat nicht nur als einziger einen Farbfernseher – er bringt auch marktwirtschaftlichen Galgenhumor in die Stückanalyse mit ein. „Medea ist clever, die wüsste genau, was sie heute zu tun hätte, um zu überleben.“
Darüber lacht sogar der Dozent. Er lacht, doch nicht als Einzelner, sondern im Chor mit den Studenten. Sarkasmus als kollektive Katharsis.
Doch vielleicht wird er heraustreten, sich mutig gegen sein Schicksal auflehnen, als Individuum auf sein Recht pochen wie die griechischen Helden „vor unserer Zeitrechnung“. Ob dies gelingt, wird jedoch nicht von ihm allein abhängen, sondern von denen, die Schicksal spielten und von denen, die nun mit einem kühlen Luftstrom von Westen her das Schicksal im maroden System bestimmen.
(1990)
Text: mee ©