Es war ein Scherz gewesen. Beim Aufbruch, beim Abschied von den Eltern. Ausgerechnet am Tag der Feierlichkeiten. „Ich gehe nach Berlin – und dann wird auch bald die Mauer fallen.“
Einen Monat war es her – und nun stand er hier in diesem Menschenpulk und starrte auf die uniformierten Spuk-Gestalten im Zwielicht des Brandenburger Tores. Sie vermehrten sich im Nu. Wie Ameisen im Schatten der Dunkelheit. Ständig traten neue hervor. Stumm. Gespenstisch. Während die Stimmung um ihn herum immer ausgelassener wurde. „Die Mauer muss weg, die Mauer muss weg“, riefen ein paar Leute mit langen Hälsen. Auch sie vermehrten sich. Er konnte es spüren, denn die neu Hochgehobenen drängten ihn näher an den Rand des Bauwerks. Bedrohlich nah zur anderen Seite.
Dass hier überhaupt soviel Platz war.
Er schaute empor in den dunklen Himmel. „Es kann nicht sein“, sagte er sich. „Es kann nicht sein. Unmöglich.“ Er kannte die große Politik nur aus der Zeitung, aus dem Fernsehen. Doch irgendein seltsamer Zufall hatte ihn in diesen besonderen Moment der Weltgeschichte katapultiert, wie er es sich immer ersehnt hatte. Doch dass es so schnell gehen würde … Er stellte sich Moskau vor, den Kreml. Sicherlich war man dort längst informiert. Die amerikanischen Fernsehteams, die hinter seinem Rücken arbeiteten, trugen ihn und die anderen, die hier standen, wie auf einem Raumschiff rund um die Welt und nicht mehr zurück.
Wer telefonierte nun miteinander? Kohl, Genscher, Gorbatschow? Wann würden Panzer anrollen? Würde jemand den Schießbefehl geben, wie eigentlich üblich?
Surreal.
Dabei vermisste er sie. Ein Jahr war es her, dass er sie bei ähnlichen Temperaturen an sich gezogen hatte. Im Herbst. Mit ihrem hellgrünen Trenchcoat, den schwarzen, altmodischen Schuhen. Dem kurzen Rock samt Pullover. In irgendeiner Gottverlassenen Kirche, in die sich schon lange keine Seele mehr verirrte.
Ob sie ihn jetzt sah? Zusammen mit ihrer Schwester?
Er stellte sich ihr Gesicht vor: den dunklen Pagenschnitt, das Lächeln. Um besser rüberzukommen für die Kameras, hätte er sich umdrehen müssen. Doch das konnte er nicht. Der Film spielte in Richtung Osten. Ein fremder Stoff. So fremd wie das graue und trist wirkende Land vor seinen Augen. Noch grauer als der Teil, aus dem er kam. Fremd und unbehaglich, aber jetzt und generell wohl näher als die Städte ihres Landes, die er mit ihr besucht hatte. Die er seit seiner Kindheit kannte.
Nun rückten ein paar Wachsoldaten heran, weil vorn am Rand der Mauer Leute runtergefallen waren. Besser gesagt: gesprungen. Mauerstürmer. Die Wachsoldaten führten diese Übermütigen zurück. Hoben sie wieder hoch. Wenigstens wurde niemand abgeführt. Keine Schüsse fielen.
Tatsächlich wurde die Stimmung hier oben immer ausgelassener. Sogar etwas albern, wie er fand. Doch er sagte nichts. Er beobachtete nur. Menschenansammlungen wie diese hatte er immer gemieden. Was sollte er machen? Er war mittendrin. Mittendrin in der Weltgeschichte. Ein schönes Gefühl. Zweifellos, doch wie würde es weitergehen? Politisch und in seinem Leben? Was konnte hiernach noch kommen? War dies – mit 20 Jahren – nicht bereits der Moment, der zum Ereignis seines Lebens geworden war? Nach all den bleiernen Jahren? Da sich nichts zu bewegen schien? Den Monaten nach der Trennung?
Jetzt bewegte sich alles. Jetzt wackelte die Welt. Die Erde. Er spürte es. Jeder hier musste es spüren, denn, dass sie hier so standen und riefen, wie sie es taten, war unmöglich. Eigentlich. Völlig unmöglich, aber doch wahr.
Text: mee ©
Ein weitestgehend autobiographischer Text. Zusammen mit meinem Kommilitonen Burkard Michel aus Randersacker, der mich mit seiner roten Ente im Grunewald abgeholt hatte, war ich damals am 9. November 1989 auf der Mauer – und dann entlang der Mauer bis zum Checkpoint Charlie unterwegs. Es herrschte eine Stimmung unbändiger Begeisterung. Burkard, der eine Affinität zu roten Socken und, wie ich meine, auch zu roten Handschuhen hatte, trug einen hellgrünen Parka und dunkelblondes Haar; ich einen hellen Mantel und volles, dunkles Haar. Deshalb habe ich dieses Foto gewählt. Um einen Parkplatz auf der Straße des 17. Juni zu finden, mussten wir die Ente mit den Händen in eine schmale Lücke tragen. Ich weiß nicht, wie wir das gemacht haben, aber es war an dem Abend das kleinere Wunder.
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