Hastores Ponim

Foto: mee

Sie waren älter geworden: Donald Tusk, der nach den ersten Hochrechnungen euphorisch seine Anhängerschaft und sich selbst zum guten Abschneiden bei der Wahl beglückwünschte; Jarosław Kaczyński, der geschlagene Gewinner, dessen Anhängerschaft – den kollektiven Freudenmienen nach – sich aus einem katholisch-nationalistischen Nordkorea zu rekrutieren schien; die Moderatorin im Studio, die wie aus Wachs wirkte, gelegentlich nuschelte und manchmal den Faden verlor. Ihm genügte es, zu sehen, dass er mit seiner Prognose zum Dritten Weg („Trzecia Droga“) richtig gelegen hatte. Mehr brauchte man nicht wissen. Es würde reichen. Der Politikwechsel war von der Mehrheit legitimiert. 72, 9 Prozent Wahlfrequenz – mehr als 1989. Ein für Deutschland unmögliches Ergebnis.

Er zog sich den Mantel an und ging hinaus. Wie damals 2007, als Tusk zum ersten Mal als Premier aus der Wahl hervortrat. Die Stadt war neu für ihn gewesen; jetzt war sie es nicht mehr. Das galt auch für die Arbeit bei der Stiftung. Er ging hinaus in die Dunkelheit. Ein kühler Wind trieb schon seit Tagen die gefallenen Herbstblätter über die dürren Grünanlagen. Wolken schoben sich vor den Mond, der in der Düsternis des Himmels wie eine verkühlte Installation aus einer vergangenen Zeit wirkte. Jetzt –  zwischen zwei Wolken, die sich überlappten – nahm er die Form eines Schwertes an.

„Ich sehe einen Tumult, Unruhen vor dem Königsschloss. Donald Tusk sitzt dabei in einem Auto“, hatte ihm die schöne Frau, die er bei einer OSZE-Konferenz im Sofitel kennengelernt hatte, beim gemeinsamen Frühstück Mitte der 2010er Jahre gesagt, weil sie es geträumt hatte. Das war vor Tusks Rückkehr aus Brüssel gewesen. Der Aufruhr schien den Zeiten geschuldet zu sein. „Hastores Ponim.“ Ihr geheimnisvolles Lächeln konnte er nicht vergessen. Auch nicht ihre Erläuterung: Gott verbirgt sein Angesicht.

Damals, als sie ihm den Traum mitteilte, waren die Verhältnisse noch relativ stabil gewesen. In Europa, im Nahen Osten. Wenn man von den üblichen Spannungen absah. Sie hatten über ihre Heimatländer gesprochen. Israel – Deutschland. Die Last der Geschichte. Ihre Berufe.

Nun wehte, wie Sebastian Falkenberger fand, ein kosmisch-metaphysischer Wind, der alles durchschüttelte und, wie nicht wenige fürchteten, in einen großen  Krieg, einen gewaltigen Sturm münden konnte. Ukraine, Israel. Berg-Karabach. Auch im Kosovo und zwischen China und Taiwan rumorte es. Dazu im Innern vieler europäischer Länder. Nicht nur dort. Es war ein Brodeln, noch tiefer als es die Medien transportieren konnten. Man musste nur die Länderreports gründlich lesen.

Seine Gedanken am 7. Oktober waren sofort bei ihr gewesen. Sheva. Ob sie in Sicherheit war? Wie sollte er es überprüfen? Ihr Name war nicht bei Facebook zu finden. Seltsamerweise auch nicht bei Google. Ein Deckname von Anbeginn?

Was Sebastian Falkenberger überraschte, war die geräuschlos-glatte moralische Gepflegtheit, mit der manche Journalisten und Politiker in der Bundesrepublik auf Distanz zu Israel gingen: „Beide Seiten betrachten.“ Er hatte keinerlei Sympathien für Netanjahu und dessen rechtsreligiöse Regierung, so wie er von Berufswegen eine kritische Distanz zu allen Religionen hielt, aber wer bei dem Überfall Opfer und wer Täter gewesen war, stand eindeutig fest. Spielte das in Zeiten der post-kolonialen Theorie keine Rolle mehr? Gehörte die Solidarität  mit Israel nicht mehr zur Staatsräson? War es wieder legitim, Berliner Privathäuser mit Davidstern zu markieren?

Er kam in dem ruhigen Viertel, in dem er wohnte, an einer kleinen Tankstelle vorbei, dann an einer leeren Pizzeria. Die Eingangstür wurde gerade geschlossen. Die pro-Palästina-Kundgebungen in London, Paris und Rom vor ein paar Tagen hatten Sebastian Falkenberger an fern zurückliegende Schulhofstreitereien mit Palästinensertüchern erinnert.

Es schien keinen Ausweg zu geben. Keine Lösung.

Als würde alles nach einer höheren Gesetzmäßigkeit ablaufen. Nach einem Plan, der alle demokratischen Politiker überforderte: Scholz, Macron, Biden. Bald dann wohl auch Tusk.

International hatte sich eine neue Achse gebildet, und im deutschen Bundestag gab es eine Partei, die sich wachsender Beliebtheit erfreute: „Germania 2030“. Die Abgeordneten sahen sich an der Seite von Russland, China und Iran. Eine multipolare Psychose, dachte Falkenberger und schaute auf eine ältere Frau, die sich aus einem Fenster lehnte und rauchte. Auf ihrer Fensterbank lag ein kleiner Hund mit einem weiß-roten Kissen. Der Rauch der Zigarette stieg langsam auf. In der hellerleuchteten Wohnung konnte er im Hintergrund einen Fernsehschirm erkennen. Hektische, grelle Bilder. Wahrscheinlich Werbung.

Er ging weiter. Die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben. Ihm fröstelte etwas. Die Warschauer Nächte wurden kälter. Gott verbirgt sein Gesicht. Was sollte das heißen? Am liebsten hätte er den Busch vor dem menschenleeren Spielplatz gefragt, an dem er jetzt vorbeilief. Doch er schwieg.

Text: mee ©

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