Der Schuster von Grochów

Foto: mee

Er ist nicht mehr da: der Schuster in meinem Viertel in Grochów, zu dem ich in den vergangenen Jahren gelegentlich meine Schuhe brachte. Meistens im Herbst, wenn das Wetter rauer wurde und die Lederschuhe eine Auffrischung brauchten.

Der Laden, in dem der große, alte Mann mit dem grauen Haarschopf die Schuhe winterfest machte, steht leer. Kein Hinweisschild auf seine Profession („Szewc“) ist mehr zu sehen. Hier kümmerte er sich um Absätze und Sohlen, Innenfutter und Spitzen. Und egal, ob er nähte, hämmerte oder bohrte – er verlieh den Schuhen, die ich ihm (oft in einem völlig vernachlässigten Zustand) übergab, eine neue Würde. Er schenkte ihnen die besondere Schönheit und Pflege nach Gebrauch und gelungener Reparatur. Vergleichbar einem Arzt, der ein Menschenleben rettet.

Der Schuster von Grochów saß, wenn man eintrat, hinter seiner Ladentheke in der Ecke. Umgeben von Ausputzmaschine, Bohrern und Zangen. Aus einem alten Transistorradio war Musik zu hören. Reichte ich ihm das jeweilige Paar über die Theke, legte er den Schuh, den er gerade bearbeitete, zur Seite und betrachtete mein Paar gründlich. Er inspizierte alles. Drückte das Leder. Dann dachte er nach und nach einer Weile sagte er den Preis. 30 oder 35 Złoty. Nicht einmal 10 Euro verlangte er für seine Rettungsaktionen. Ich nickte. Dann drückte er mir einen Zettel mit der Auftragsnummer in die Hand und sagte so etwas wie „Jutro wieczorem“ (Morgen abend), damit ich wusste, wann ich die Schuhe abholen könne. Gezahlt wurde immer „gotówką“ – in Cash. Nicht mit Karte.

An der Wand hinter der Ladentheke hing ein polnischer Adler in verblichenen Farben. Auf der Theke waren hinter Glas uralte Artikel zu lesen, die über den Schuster verfasst worden waren im Laufe der Jahrzehnte. Mit Schwarz-Weiß-Fotos versehen. Er schien schon länger eine Legende zu sein. Eine wortkarge Legende, denn sein mürrisches Gesicht lud nicht zum Smalltalk ein. Er redete auch mit den anderen Kunden nur das Notwendigste.

Wann genau er gestorben ist, weiß ich nicht. Vor einem Monat räumten Arbeiter einige Sachen aus dem Laden, der sein Platz in der Welt war. Dirigiert wurden sie von einer Frau um die 60. Auf Nachfrage sagte sie: „Mój ojciec nie żyje.“ (Mein Vater lebt nicht mehr)

Man sagt, die Ahle sei die Nadel des Schusters. Mit ihr könne er durch Leder stechen. Was für ein ehrenwerter Beruf.

Text: mee (c)

Newsletter

Abonnieren Sie meinen Newsletter.
Folgen Sie mir auf dem Weg meines Schreibens.