Schließlich habe ich mir doch ein Deutschland-Ticket besorgt. Beim Kartenschalter am Alexanderplatz. Der Mann, der es mir ausgehändigt hat, stammt aus Nigeria. Als ich ihn auf Widersprüche bei meiner Anschrift aufmerksam machte (die Meldeadresse stimmte noch nicht mit der neuen Anschrift überein), ließ er die rechte Hand lässig zusammenklappen, um meine Bedenken zu zerstreuen. „Das ist egal.“ Es war für mich eine der ersten großherzigen Gesten in der deutschen Hauptstadt seit meiner Rückkehr. Die deutschen Beamten auf Bürgerämtern hatte ich bis dato anders erlebt. So steif und schroff wie früher, als ich entschied, das Land zu verlassen. Das war schon als Kind mein Plan gewesen, weil ich mich bereits damals mit meinem Geburtsland nicht identifizieren konnte und wollte. Was natürlich eine sehr deutsche Eigenschaft ist. Im Jahr 2000, als er den kompletten „Faust“ auf die Bühne brachte, warnte Peter Stein vor einem Volk, das sich selbst nicht möge, weil ein solches gefährlich sei. Er sagte es von Italien aus – mit ausreichend Sicherheitsabstand zu Deutschland.
Tatsächlich sind die Deutschen gefährlich – die Rechten wie die Linken. Rechts wissen wir es schon etwas länger, doch der Europawahlkampf belegt es in grotesker Weise. Die Rechtspopulisten von der AfD treten mit einem Spitzenkandidaten an, der (nicht nur) die Rechtspopulisten Europas mit verstörenden Aussagen zur SS brüskiert hat und nun während des Wahlkampfes einem parteiinternen Auftrittsverbot unterliegt. Was für ein nationalistisch-irrationaler Haufen.
Zur linken Seite ist es in diesen Tagen, an denen das Grundgesetz 75 Jahre alt wird, nicht besser. Antisemitische Aktivisten, die ein Institut besetzen, bekommen von links fühlenden Hochschulprofessoren einen Welpenschutz-Beistand, der mich fassungslos macht. Gibt es keine Mitte der Vernunft mehr im Land, das einmal kluge und geschichtsbewusste Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt, Heiner Geißler oder Joschka Fischer geprägt haben?
Auf dem internationalen Parkett schreitet derweil die Isolierung Israels mit großen Schritten voran, sodass eine gute Freundin mit berechtigter Süffisanz vom Beginn einer „neuen Ära“ spricht.
Nicht nur die deutsche Welt scheint also aus den Fugen zu sein – oder wird nun lediglich transparent, was schon lange aus den Fugen ist?
Als ich in dieser Woche feststellte, dass ein lebenswichtiges Medikament knapp wird, das mir meine Ärztin in Warschau per eRezept seit Jahren verschreibt, versuchte ich – da ich erst Anfang Juni wieder in Polen bin – in einer Berliner Apotheke Nachschub zu erhalten. Viele komplizierte Distributions-Wege wurden mir von drei biodeutschen Mitarbeiterinnen in Berlin-Mitte ausgesprochen höflich erklärt. Das Ergebnis: kein Medikament. In einer anderen Apotheke hörte mir der Besitzer, der aus dem Libanon stammt, aufmerksam zu, zog dann umgehend eine Packung des ersehnten Heilprodukts hervor und grinste listig: „Meine Mutter hat dasselbe Gesundheitsproblem wie Sie. Ich gebe Ihnen den Inhalt einer Packung ohne Verpackung. Das sollte reichen, bis Sie wieder in Polen sind, um Nachschub zu besorgen.“
Das ist der Geist der menschlichen Solidarität, den ich liebe und den ich auch bei der Begegnung mit einem ukrainischen Jesuiten am Lietzensee erleben konnte, mit dem ich ganz unkonventionell über geistliche Dinge sprach. Er machte mit seinen Kriegserfahrungen und seiner pazifismuskritischen Spiritualität einen großen Eindruck auf mich. Dicht am See auf einer Wiese unterhielten wir uns, ausreichend entfernt von der modernen Kirche des Ordens, die mich architektonisch ans Kanzleramt erinnert: kalt, klotzig und häßlich.
Ich habe keine Ahnung, wie die Bundesrepublik es schaffen kann, sich zukünftig anders zu präsentieren. Es geht auch nicht nur um die Fassade. Es geht um eine innere Transformation, einen Mentalitätswechsel. Und ich nehme mich davon gar nicht aus.
Das 21. Jahrhundert lädt die Menschen aller Länder offenbar dazu ein, ihre Herkunft und ihre Kultur zu überdenken. Ihre Ideale, ihre Werte. Ein globales Checks and balances findet statt.
Text: mee ©