Am Hauptbahnhof Rostock gehe ich die Treppe herunter, dann weiter zum S-Bahn-Gleis. Ich bin nicht der einzige Stadtflüchtling: Paare, Familien mit Kleinkindern, Senioren. Ein Mädchen, das wie der junge Boris Becker mit Zöpfen aussieht, spielt mit ihrem glatzköpfigen Vater. Ich blicke aus dem Fenster: Warnemünde Werft.
Elf Jahre bin ich hier nicht gewesen.
Anfang der 2000er Jahre wollten meine Eltern hierhinziehen: Warnemünde. Die Wohnung am Kirchplatz – im letzten Moment machten sie einen Rückzieher. Ein Jahr später war meine Mutter tot.
In ihrer Kindheit war die Stadt an der Ostsee der sichere Hafen gewesen – für sie, ihre Brüder und ihre Mutter. Von Pillau, das heute zur russischen Oblast Kaliningrad gehört, waren sie hierhergekommen. Mit einem Walfischfänger und nicht mit der „Wilhelm-Gustloff“, wie von meiner Großmutter ersehnt. Auf dem NS-Schiff, das vor der Küste Pommerns von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde, war kein Platz war mehr freigewesen.
Mein Vater verunglückte im Yachthafen von Warnemünde, als er von einer Segeltour zurückkehrte. Ich konnte den Aufschlag seines Kopfes auf den Steg bis nach Vilnius hören, wo ich mich damals aufhielt.
Ich kaufe mir am Alten Strom ein Fischbrötchen. Die Möwen über mir düsen angriffslustig umher. Ein Tanz des Hungers und der Gier.
Ich erinnere mich an alles, was sich hier im Sommer 2013 zutrug. Es steckt in meinem Körper. Eingeritzt wie eine unauslöschliche Schrift.
Kinder lassen am Strand bunte Drachen steigen. Es geht immer weiter. Jahr für Jahr, Sommer für Sommer. Ich – Phänotyp Peter-Pan-Boomer – bin nicht mehr der junge Mann, für den ich mich immer noch halte, weil meine Physiognomie mich verlässlich täuscht.
Schon damals fielen uns die deutschen Rentner auf, die gut gekleidet Bier trinken und Eis essen und ein wenig Luxus- und Lebensmüde umherschlendern.
87 Jahre alt wäre mein Vater heute, würde er noch leben. 88 Jahre meine Mutter.
Ich gehe zum Leuchtturm, lasse mir den Wind ins Gesicht wehen. Atme bewusst ein und aus.
Später suche ich im Yachthafen die Stelle des Aufschlags. Ich finde sie nicht. Doch mir fallen die Warnschilder auf: „Betreten auf eigene Gefahr“.
Ein Song aus den 90er Jahren wird in mir lebendig, der von einem Mann erzählt, der ins weite Meer hinausschwimmt, um zu einem Geisterschiff zu gelangen, das am Horizont aufgetaucht ist. Als der Mann das Schiff erreicht, erkennt er, dass der Mann am Steuer, dessen Gesicht er nicht erkennen konnte, sein Vater ist.
Als ich den Song still vor mich hinsumme und die Schiffe im Hafen betrachte, deren Mäste wie majestätische Kruzifixe ohne Querbalken wirken, taucht mit einem Mal ein riesiges Fährschiff auf und zwei kleine Jollen mit weißen Segeln nähern sich mir wie eine Vorhut. Wie Boten.
„Alles klar, Daddy“, sage ich und spreche ein wortloses Gebet.
Ich gehe weiter zum Strand.
Barfuß möchte ich durch den Sand laufen und mit ausgestreckten Armen Pinselstriche auf die blaue Leinwand malen.
Text: mee ©