Alles ist neu, nichts hat sich verändert. Ich schlendere in der Kälte die Chausseestrasse entlang. Vorbei am Brechthaus, einem Fahrradladen, einer der letzten Postbank-Filialen und Restaurants. Vor vielen Jahren in einem anderen Jahrtausend war diese Straße grau, monochrom und voller Geheimnisse. Schönen und weniger schönen.
Ich komme zur Invalidenstrasse, sehe die gelbe Straßenbahn, höre das Quietschen auf den Gleisen, das ich einst liebte. Als akustisches Signum der Großstadt. Leider fühle ich nichts. Auch beim Anblick der jungen Leute spüre ich nur Teilnahmslosigkeit. Bin ich alt geworden? Nur noch eine Mumie? Habe ich zu lange im Ausland gelebt, als dass mich mein Herkunftsland mit seiner Hauptstadt noch berühren könnte?
Tags zuvor, es war mein Geburtstag, habe ich Stunden in meinem Wagen gesessen: Stau an der polnisch-deutschen Grenze. Kontrollen, Urlaubsende, protestierende Landwirte – manchmal kommt alles zusammen, und in diesem Deutschland scheint (wie in anderen Ländern) derzeit vieles zusammenzukommen. Das Land wirkt so, als hätte es keine Regierung mehr. Das gibt radikalen Kräften Raum. Wer kann ihnen etwas Substanzielles entgegenhalten, um sie zu stoppen? Ich hörte schon im Autoradio nur moralische Empörung. Parolen. Doch keine Argumente.
Ich gehe Richtung Hauptbahnhof, um mir ein Zugticket zu kaufen. Was für ein Anachronismus. Beim Versuch, es online zu bestellen, haperte etwas beim PayPal-Transfer. Ob die Bahn mich pünktlich und ohne Komplikationen in ein paar Tagen ans Ziel bringen kann, steht auf einem anderen Blatt.
Ich betrachte den Bahnhof aus der Ferne. Wie mit Fischer-Technik gebaut, so wirkt er auf mich. Sogar in der Dunkelheit. Viele Erinnerungen steigen in mir auf. Bilder, Gefühle, die ich nur schwer benennen kann. Schöne und weniger schöne.
Im Winter 1989/90, als ausgerechnet ich die beste Statistik-Klausur auf dem Erstsemester-Parkett hingelegt hatte, streunte ich nach der Rückgabe gedankenversunken hier herum, als hätte ich die deutsche Fußballnationalmannschaft zum Titelgewinn geführt. Lehrter Bahnhof, Potsdamer Platz. Es war alles eine große Ödnis, und ich grübelte bei gemächlichem Schritt über die Bedeutung dieses Erfolgs, mein zukünftiges Leben. Ich trug einen langen, schwarzen Wintermantel damals, der zu meinem Erkennungszeichen im Winter werden sollte.
Ein paar Jahre später schien die Narbe des Kalten Krieges, die hier besonders spürbar gewesen war, fast verheilt. Mein Mantel war kürzer geworden, die Haare auch, und die politisch Verantwortlichen der Stadt sprachen vom „Neuen Berlin“ und ließen den Potsdamer Platz modernisieren. Es war die Zeit von „Lola rennt“ und „Sommerhaus, später“. Und wie es der Zufall wollte, befand sich meine damalige Wohnung nicht weit entfernt vom Lehrter Bahnhof.
Vorbei. Wir haben das Jahr 2024. Nichts ist verheilt, alles reibt sich wie bei einem tektonischen Beben aneinander. Der Mann am Schalter empfiehlt mir ein „Deutschland-Ticket“, es heißt wirklich so. Ich verzichte darauf. Noch, denn es scheint praktisch zu sein. Aber soweit bin ich noch nicht. Berlin, Du hast mich wieder. Ich werde Dich anschauen, Dir zuhören. Aber erobern wirst Du mich nicht.
Text: mee ©