Ein ungestimmter Chor

Foto: mee

Ich erwache mit dem ersten Licht. Die längsten Tage des Jahres, als strecke der Himmel seine Stunden aus, um uns zu erinnern: Noch ist Zeit. Am Firmament ein klares, seidiges Blau – wie der erste Ton eines Nocturne von Chopin, hingehaucht, fast unsichtbar. Eine Melodie für den Übergang zwischen Traum und Tag.

Ich schalte die BBC ein. Kalifornien ist im Ausnahmezustand. Die Nationalgarde marschiert durch die Straßen von Los Angeles. Der Kulturkrieg hat seinen digitalen Schatten verloren – jetzt hat er Körper, Uniform, Reizgas. Die Geschichte ist ein Irrenhaus, dessen Wärter die Insassen gewählt haben.

Ich mache mir Kaffee. Arabica, leise aufkochend, ein vertrautes Ritual. Ich schalte die Nachrichten aus. Zu viele Stimmen, zu viele Augenzeugen, zu viele Wahrheiten. Für diesen einen Moment am Morgen brauche ich Stille – oder das, was ihr am nächsten kommt.

Der Klang des Morgens ist zart. Von der Kreuzung höre ich Spatzen, das zögernde Rollen der ersten Autos. In meinem Inneren klingt Chopin nach – ein Prélude vielleicht, etwas aus der Regentropfenwelt des Abends. Eine Musik, die nicht ordnet wie Bach, sondern fragt. Die sich nicht erhebt, sondern fällt – ins Ungewisse.

Ich denke nicht an Steuerformulare oder EU-Paragraphen. Auch nicht an die ideologischen Gräben, die in jedem Land wachsen wie Risse im Asphalt. Es ist, als hätte jedes Lager seine eigene Sprache, seine eigene Grammatik der Unversöhnlichkeit.

Stattdessen sehe ich hinaus. Warschau. Diese widerspenstige, verletzliche, stolze Hauptstadt. Sie trägt ihre Geschichte nicht wie ein düsteres Denkmal, sondern wie eine Narbe, die heilt.

Ich bin ein Wanderer. Eine ruhelose Seele in Transit. Einer, der in Chopins Exilakkorden mehr Heimat findet als in Flaggen. Vielleicht auch einer, der gelernt hat, in sich selbst zu wohnen – oder es zumindest zu versuchen. William Blake flüstert aus der Erinnerung: „Improvement makes straight roads; but the crooked roads without improvement are roads of Genius.“

Der Kaffee schmeckt gut. Aber ich finde heute keinen Halt in mir. Die Stimmen der letzten Wochen – Freunde, Fremde, Nachrichten – hallen nach wie in einem Salon, in dem alle gleichzeitig sprechen. Ein ungestimmter Chor.

Die letzte Nacht war anders. Im Traum: Frieden. Ein Garten, dazu der ergraute Schriftsteller, den ich nie traf. Vielleicht ist es das Alter, das mir diese Träume schenkt – kleine Proben von Gelassenheit für die „Restzeit“, wie es im Buch „Endmoränen“ heißt.

Die Empörung der Welt wirkt seltsam fern. Ich bin ihr nicht entkommen, aber ich habe ihre Lautstärke gedimmt. Nicht alles ist meine Geschichte. Nicht jede Krise mein Krieg, doch flackern sie auf meinen Wänden.

Draußen wächst der Verkehr. Ein weiterer Tag beginnt. Ich weiß nicht, welche Melodie er bringen wird. Walzer? Mazurka? Vermutlich nur ein dissonantes Fragment. Trotzdem werde ich zuhören.

Text: mee

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