Verlassene Pietà

Foto: Archiv

Ich stand ihr stets mit einer gewissen Kühle gegenüber. Mit innerem Abstand. Auch mit äußerer Distanz. Ich mochte es nicht, wenn sie mit mir über die Schule, Bücher und das Weltgeschehen sprechen wollte. Wenn sie mich bewunderte oder in ihrer Absicht zu formen versuchte. „Lehrer wäre ein guter Beruf für Dich.“

Was ich spürte, war ihr Unglücklichsein. Der Verlust des zweiten Sohnes, worüber sie nie sprach, der Verlust der Heimat im Osten, worüber sie ständig sprach – aber nie revanchistisch. Nur mit Verachtung und Abscheu für den Schmutz des Ruhrgebietes, in das sie mit ihren Brüdern und ihrer Mutter hatte ziehen müssen.

Tatsächlich passte sie dort nicht hin. Aufgrund ihres natürlich mondänen Charismas schätzte sie fast jeder als Schauspielerin ein, und tatsächlich zog es sie nach der Friseurlehre zum Theater. Sie schnitt Kostüme, bis sie die Leitung einer Albrecht-Filiale in Duisburg-Meiderich übernahm.

Ich sehe noch das Buch Tisa von der Schulenburgs mit dem Titel „Ich hab’s gewagt“ auf dem Buchstapel, der stets neben dem Sessel meiner Mutter stand und wuchs und kleiner wurde und immerzu mit neuen Büchern aufgefüllt wurde. Und mit Artikeln aus der Zeitung, die sie für aufhebenswert ansah. „Ich hab’s gewagt“, die Autobiographie einer adeligen Frau, die durch Affären, Kunst und spirituelle Suche zu einem Platz in der Kirche fand, verstand ich schon damals als Gegenbeispiel für das Leben meiner Mutter, die es gerade nicht gewagt hatte. Sondern ihr Leben in den Dienst für Mann und Sohn stellte, ohne dafür eine besondere Dankbarkeit zu ernten. Oder erfüllt zu sein. „Ich bin hier doch nur die Reinigungskraft.“

Eine Woche vor ihrem Tod im März 2005 mit gerademal 69 Jahren überkam mich ein Wasserfall der Tränen, als würden all die aufgestauten oder eingefrorenen Gefühle, die ich für die Frau, die mich in die Welt gebracht hatte, hegte, mit einem Mal entladen werden. 15 Minuten lang war ich nichts als Tränen. Instinkt, Geheul. Ich weinte um sie, die noch lebte, ihre letzten Tage noch vor sich hatte, bis ihr in der Nacht, da ich auf dem Gästebett des Krankenhauszimmers schlief, der röchelnde Atem ausging. Diese abrupte Stille war es wohl, die mich geweckt hat.

Auf dem Friedhof sah ich sie wieder – aufgebahrt im Sarg in der Leichenhalle. Sie lag nicht. Jemand hatte sie aufgerichtet. Starr und bewegungslos wie eine verlassene Pietà aus Stein blickte sie in Gedanken versunken auf den kalten Boden vor dem Gitter.

Ich weiß nicht mehr, was ich bei ihrem Anblick dachte. Vermutlich, dass dies nur eine Hülle ohne Leben sei. Das Leuchten in ihren Augen, das strahlende Lächeln, das ich bei so vielen Frauen gesucht und gefunden habe, war erloschen.

Keine Träne lief mir bei ihrer Beerdigung über die Wangen, kein Schluchzen in all den Jahren in der Erinnerung an sie. Nur Leere und Melancholie angesichts ihres unerfüllten Lebens.

Vielleicht schreibe ich deshalb diese Zeilen. Vielleicht lebe ich deshalb das Leben so, wie ich es zu leben wage. Dank ihr.

Text: mee ©

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