Wildes Europa

Foto: mee

Er stieg in Posen ein. Noch bevor er den ersten Fuß in das Abteil setzte, roch ich ihn: Wodka, Bier, Schweiß und Dreck.

Ich versuchte ihn zu ignorieren, las weiter in „Der wilde Kontinent“, ein Buch über das zerstörte Europa zwischen 1943 und 1950. Es passte. Als ich den neuen Fahrgast im Berlin-Warszawa-Express, der mir schräg gegenüber saß, aus den Augenwinkel musterte, sah ich ein Wesen, das direkt aus den Ruinen gekrochen zu sein schien, allerdings mit modernen, wenn auch schmutzigen Trainingshosen.

Er bemerkte, dass ich ihn ins Visier nahm. In seinem Blick war etwas Bedrohliches.

Ich las weiter und registrierte, wie er sich Wodka in einen McCafé-Becher eingoß. Dann drehte er sich eine Zigarette. Der Tabak fiel ihm auf die Füße.

Als ich mir noch die architektonische Zerstörungswut der Deutschen nach dem Warschauer Aufstand vorzustellen versuchte, stand der Mann auf und bat mich, auf seinen Beutel und die Strickjacke aufzupassen. „Da sind meine Papiere drin.“ Ich nickte. Ich wusste längst, dass sich in dem Beutel auch ein paar Bierdosen befanden. Ich hatte keine Lust darauf, von ihm in eine Rolle der Komplizenschaft manövriert zu werden. Er ging den Flur entlang – Richtung Toilette. Die Zigarette bereits im Mund. Ich telefonierte – auch als er längst wieder zurückgekehrt war. Ich beschränkte mich so gut wie möglich aufs Zuhören, weil ich nicht wollte, dass er private Dinge von mir erfuhr.

Als ich das Telefonat beendet hatte, wusste ich, daß er das Gespräch suchen würde. Er bot mir zum Dank fürs Aufpassen eine Dose an. Ich lehnte höflich ab. Wann wir in Berlin seien? Ich nannte ihm aufgrund von Baustellen eine geschätzte Zeit. Ob ich Pole sei? Warum ich in Polen leben würde? Ich hatte keine Lust auf seine Fragen, schaute ihn nur an. Freundlich, aber distanziert. Nun hielt er den Zeitpunkt für gekommen, um von sich zu berichten. Ungefragt.

Er erzählte von Montpellier und der Arbeit auf dem Bau. Sieben Flaschen pro Tag. Ein Jahr habe er dort im Knast gesessen, weil er mit dem Messer zugestochen habe. Am Ende hätten man bei ihm Schizophrenie diagnostiziert, und er sei freigekommen. Er lachte. Ich sagte nichts. Ich fand seine Schilderungen nicht lustig. Auch er schwieg nun. Ob er in Posen lebe, wollte ich wissen. Nein, Masuren. Er nannte irgendein Nest, von dem ich nie gehört hatte. Und jetzt Berlin? Nein. Er lächelte: Dänemark. Sehr internationaler Lebensstil, sagte ich. Er lachte. Sein Bruder würde in Düsseldorf leben. Verheiratet mit einer Deutschen. Seine Freundin sei Tschechin. Dann zog er sich die Strickjacke über. Es war kühler geworden. Wieder ging er eine rauchen.

Als ich im Bus, der zwischen Frankfurt/Oder und Berlin pendelte, durch die Windschutzscheibe sah, wie er sich mit seiner Habe dem Fahrzeug näherte, versuchte ich soetwas wie menschliche Solidarität zu ihm zu entwickeln. Mit Verspätung. Einfach war es nicht. Wir haben alle im Leben unsere Kriege, Krisen und Katastrophen, aber wer dabei ein Bündnis mit dem Geist in der Flasche eingeht, befreundet sich mit einem Banditen, der die Wunden des Scheiterns mit Gift bestreut und die Verwundeten mit hartem Griff zu seinen Ebenbildern macht.

Text: mee (c)

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