Der Himmel ist bedeckt. Auf dem Bürgersteig haben einzelne Tropfen ein meditatives Mosaik hinterlassen. Keine Autos. Keine Passanten. Ein Tag, der voller Versprechen ist.
Ich nehme die U-Bahn, den Regionalzug zum Hauptbahnhof, ein kurzer Halt mit Blick auf das grau verregnete Kanzleramt, das wie das verschlafene Domizil eines Provinzbürgermeisters wirkt. Das Eingangsfenster des Bahnhofs, durch das ich hindurchschaue, wirkt auf mich wie ein quadratisches Spinnennetz. Viele Menschen haben sich an diesem Samstagmorgen noch nicht in ihm verfangen. Einige verzweifelte Nachtgestalten, Obdachlose, Frühreisende wie ich.
Neulich hat mich ein Obdachloser mit dunklen Haaren und Bart, der Ähnlichkeit mit Saddam Hussein besaß, in der U-Bahn angespuckt. „Ich habe Hunger! Ich habe Durst! Ich brauche Wasser!“ Er war vor den Fahrgästen in seinem Elend auf die Knie gegangen und hatte die Worte wie ein Mantra wiederholt. Immer lauter, immer dramatischer. „Ich brauche Wasser! Gibt mir niemand Wasser?“ Als niemand reagierte, brach sich seine ganze Verachtung über die unterlassene Hilfeleistung Bahn, und derjenige, der in der Schusslinie seines Speichels stand, war zufällig ich.
Jetzt bin ich unterwegs zur See, um einen langjährigen Freund zu besuchen, der zusammen mit seiner Freundin Berlin nach vielen Jahren den Rücken gekehrt hat. Sicherlich die richtige Entscheidung. Man spürt gerade in der Hauptstadt, wie brüchig alles geworden ist. Im Supermarkt und in der U-Bahn staune ich jedesmal, wie verwahrlost die Menschen sind im Unterschied zu Warschau. Vielleicht lege ich deshalb Wert darauf, in Berlin lediglich „eine Wohnung“ zu haben – kein Zuhause, das nachwievor in Polen ist. Dabei scheint der Zustand Berlins durchaus symptomatisch zu sein. Seelenlos, schmutzig, brutal. So wie immer?
Gestern ist mein neuer Roman „Gespenster wie wir“ erschienen, ein „europäisches Roadmovie mit metaphysischem Horizont“, wie ein befreundeter Journalist schrieb. Eine Familiengeschichte zwischen Duisburg, Warschau und Mariupol. Ich bin dankbar, dass ich diesen Roman schreiben konnte, der viele autobiographische Motive und Elemente aufgreift. Doch wenn ich auf das Ganze schaue, ist es eine Geschichte geworden, die sehr weit von meinem realen Leben entfernt ist. Die Alchemie des Schreibens werde ich nie verstehen, aber dass sie heilsame Kräfte entfalten kann bei Autor und Leser, habe ich nie bezweifelt.
Jetzt also ans Meer. Durchatmen. Über zukünftige Projekte sprechen, die Ereignisse der Gegenwart. Wie wird es weitergehen mit der Bundesrepublik nach den Wahlen im Osten? Wie wird sich der Krieg zwischen Russland und dem Westen weiterentwickeln? Der Konflikt im Nahen Osten? Die Unruhen in England? Stürzt auch Amerika bald ins Chaos?
Wenn ich auf die Zug-Ausflügler mit ihren Fahrrädern und Rucksäcken schaue, die Kinder und jungen Familien, bin ich optimistisch. Es mag nicht meinen ästhetischen Kriterien entsprechen, sich Schmetterlinge auf den Hals zu tätowieren, aber jeder versucht auf seine Weise, dieses Leben zu überschreiten.
Zwei, drei Romane möchte ich noch schreiben, dann würde ich mich am liebsten mit der Frau, die ich liebe, und zwei Katzen auf das Sofa in Warschau legen und lauschen, wie der Regen gegen die Fensterscheiben fegt. Unaufhörlich. Ein anderes Glück brauche ich nicht mehr.
Text: mee