
Am Ende hat alles funktioniert: in dem Moment, als ich den Zählerstand durchgeben wollte, kam S. in die Wohnung. Als wir die wichtigsten Infos ausgetauscht hatten, rief MM an und lud A. und mich in ihre Wohnung in Nähe des Bayerischen Platzes ein. Ein Jahr lang habe ich gehofft, sie zu treffen, bevor es eines Tages nach Warschau zurückgehen würde. Nach ihren letzten Postings, bei denen mir – wie schon zu Beginn 2024 – eine merkwürdige Korrespondenz zu meinen eigenen Gedanken und Überlegungen auffiel, war es an der Zeit, die Initiative zu ergreifen. Dank U.’s Großzügigkeit und MM’s Spontanität hat sich der Wunsch auf den letzten Berliner Metern erfüllt. So, wie ich es mir ersehnt und vorgestellt hatte. Ganz natürlich.
Es tut gut in diesen aufgeregten Zeiten, Menschen zu begegnen, die über einen klaren Kompass verfügen und dazu den Stil besitzen, ihre gesellschaftspolitischen Ansichten mit Würde zu artikulieren. Ohne Häme und Aggression. „Auch wenn es zurzeit wenig Gründe zur Hoffnung gibt.“ MM nimmt dafür etwas in Kauf. Die letzte Auszeichnung, die sie erhalten hat, liegt einige Jahre zurück. Auch die Einladungen zu Lesungen seien weniger geworden, sagt sie. Doch nicht larmoyant, sondern mit einer wunderbaren existenzialistischen Ruhe, die mir seit vielen Jahren auffällt, wenn ich ihre Interviews und Essays lese. Man merkt dieser Frau, die auch im fortgeschrittenen Alter eine ernste Schönheit besitzt, an, dass sie trotz ihres politischen Interesses mit innerem Abstand zum Zirkus unserer Zeit lebt. Der Zufall interessiere sie, die Frage, warum man in die Familie hineingeboren wird, in die man hineingeboren wurde. In ihrem Fall eine kommunistische Kaderfamilie, von deren Aktivismus sie sich lösen musste, um ihren eigenen Weg zu gehen. Was mich an meine religiöse Sozialisierung erinnert und meine Skepsis gegenüber Massenbewegungen, organisierter Erlösungs-Gemeinschaft generell. Wie natürlich auch gegenüber Etiketten, mit deren Hilfe Menschen allzu schnell in Schubladen gesteckt und entsorgt werden sollen. Kontrovers, umstritten etc.
MM erzählt von New York, wo sie sich heimischer gefühlt habe als in Paris, Rom oder London. Doch häufig schweift ihr Blick gen Osten. Auf meine Nachfrage auch in die DDR, von der viele Zeitgenossen zu MMs Verwunderung nicht loszukommen scheinen, obwohl man sie doch einst unbedingt überwinden wollte. Zumal es damals keine unabhängigen Plattformen zur Meinungsäußerung gab – im Unterschied zu heute.
Am Ende des Gespräches sagt sie, dass wir in Kontakt bleiben sollten – vielleicht verbunden mit einem Besuch in Warschau. Ja, unbedingt. A. reicht ihr die Hand. Ich auch.
Wieder in der Wohnung, die ein Jahr lang nicht mein Zuhause war, sondern lediglich eine Art Transitraum mit Bett und Kühlschrank, findet die offizielle Übergabe statt – in Anwesenheit der Hausverwalterin. Alles ist gut, und was noch nicht vollkommen funktioniert, stellt doch keinen Hinderungsgrund für die Übergabe da. Während wir zwischen Küche, Bad und leerem Wohnzimmer navigieren, erhalte ich einen Anruf von der Arztpraxis in der Güntzelstraße. Die Histologie, die noch ausstand, sei endlich da, höre ich. Ich könne sie abholen. Das tun wir bald darauf – und auch hier ist alles gut. So wie ersehnt und vorgestellt.
Wenig später fahre ich den Wagen aus der Garage und zusammen mit A. verabschiede ich mich kurz von der polnischen Pensionsbetreiberin, die mit Anfang 40 noch Germanistik studiert hat, während ihr inzwischen 81-jähriger Mann, der zufällig den gleichen Geburtstag hat wie A. und zufällig das gleiche Studium absolviert hat wie ich, sich ausruht.
„Ich lese manchmal, dass der oder die mit 82, 83 Jahren gestorben ist und denke, das ist ja auch ganz normal“, hatte MM gesagt, die in diesem Jahr 84 Jahre alt wird. Sie sei eine „elegante Raucherin“, sagt A. während der Fahrt zur Grenze über sie. Ich übersetze unser Gespräch aus der Erinnerung, fasse es zusammen, was schwierig ist. MM habe sie an die polnische Autorin Hanna Krall erinnert, fügt A. hinzu. Tatsächlich besitzen beide eine ähnliche Ausstrahlung. Eine ähnliche Beobachtungs- und Beschreibungsgabe.
Noch einmal sagt A., was sie MM bereits auf Deutsch gesagt hat: dass ihre Großeltern die gleichen Vornamen haben. Auch das ist zweifellos ein Zufall, der nichts erklärt, nicht zu verstehen ist, aber vielleicht auf eine unsichtbare Ordnung verweist, die sich durch das Schreiben und Leben immer mehr erkennen lässt.
Wenn man an den Punkt gelangt, an dem man meint, allmählich etwas verstanden zu haben von sich und dem eigenen Leben, deute sich allerdings auch schon das Ende an, hatte MM sinngemäß gesagt und mir mit melancholischem Lächeln in die Augen geguckt. Augen, die auf mich wie ein Spiegel wirkten. Nach so vielen Schriftstellern als Lehrern wird es Zeit, sich einmal ganz in das Lebenswerk einer Frau zu vertiefen. Ich wähle ihres und sage ebenfalls: Danke fürs Kennenlernen – und hoffentlich Auf Wiedersehen!
Text: mee